5. Ergebnisse für den Begriff des Wesens

[120] Da den eigentlichen Gegenstand unserer Untersuchung die Wesenheit bildet, so wollen wir uns nun wieder dieser zuwenden. Als Wesenheit bezeichnet man wie das Substrat, den Wesensbegriff und die Vereinigung beider, auch das Allgemeine. Von jenen beiden, dem Wesensbegriff und dem Substrat, und von ihrer Vereinigung haben wir bereits gehandelt; von dem[120] Substrat haben wir ausgemacht, daß es eine doppelte Bedeutung hat, entweder die des bestimmten Einzelwesens, wie ein Lebendiges das Substrat ist für seine Affektionen; oder die der Materie, die das Substrat für die vollendete Wirklichkeit abgibt. Nun erkennen aber manche dem Allgemeinen vorzugsweise die Bedeutung zu, Ursache und Prinzip zu sein. Wir werden auch darauf näher eingehen müssen.

Die Annahme, daß irgend etwas, was als Allgemeines ausgesagt wird, ein selbständig Bestehendes sei, erscheint unmöglich. Denn das ursprüngliche Sein, der Wesensbegriff, ist bei jeglichem Gegenstande das ihm eigentümlich Zukommende, was bei keinem anderen so vorkommt; das Allgemeine dagegen ist ein mehreren Gemeinsames. Denn »allgemein« heißt, was seiner Natur nach einer Vielheit zukommt. Welches also ist der Gegenstand, dessen Wesen es ausmacht? Entweder bedeutet es das Wesen aller unter ihm befaßten Gegenstande oder das Wesen keines einzigen. Daß es das Wesen aller bilde, ist undenkbar. Bildet es aber das Wesen auch nur eines einzelnen, dann wird auch das übrige eben dasselbe sein. Denn dasjenige, dessen Wesen eines, und dessen Wesensbegriff einer ist, ist auch selber eines.

Überdies, selbständiges Sein, Substanz, heißt das, was nicht von einem Substrat ausgesagt wird; das Allgemeine aber wird immer von einem Substrat ausgesagt. Aber wenn nun freilich das Allgemeine unmöglich in der Weise Substanz sein kann, wie der Wesensbegriff die Substanz des Gegenstandes ausmacht: sollte das Allgemeine etwa dem Gegenstande immanent sein, wie der Begriff lebendes Wesen im Menschen und im Pferde gegenwärtig ist? Nun, dann wird es offenbar einen begrifflichen Ausdruck geben. Dabei macht es nichts aus, ob es von jeder einzelnen Bestimmung, die in dem Wesensbegriff enthalten ist, eine Definition gibt oder nicht. Denn das Allgemeine wird deshalb nicht minder die Substanz eines Gegenstandes sein, wie der Mensch als Allgemeines die Substanz des einzelnen Menschen bildet, dem er immanent ist. Das Ergebnis wird also immer wieder dasselbe sein. Denn, ist das Allgemeine Substanz, so wird es, wie z.B. lebendes Wesen, die Substanz des Gegenstandes bilden, in dem es als für den Gegenstand Charakteristisches enthalten ist.

Aber weiter: es ist undenkbar und ungereimt, daß das Einzelwesen und die Substanz, wenn sie aus Teilbegriffen zusammengesetzt ist, nicht aus Substanzen bestehen soll und auch nicht aus bestimmtem Einzelsein, sondern aus einer bloßen Qualität der Substanz. Denn dann würde etwas, was nicht Substanz, was nur die Qualität an einer Substanz und einem bestimmten[121] Einzelwesen ist, die Bedeutung eines Prius für die Substanz erlangen, und das ist undenkbar. Denn weder dem Begriff nach noch der Zeit oder Abkunft nach können die Affektionen der Substanz das Prius für die Substanz bilden; sie müßten dann der Substanz selbständig gegenüberstehen. Es würde ferner dem Sokrates, der eine Substanz ist, wieder eine Substanz innewohnen, so daß diese Substanz aus zwei Substanzen bestehen würde. Und so ergibt sich denn überhaupt, daß, wenn der Mensch als Allgemeines und alles was auf ähnliche Weise ausgesagt wird, Substanz ist, nichts von dem, was als Teilbegriff im Begriff enthalten ist, Substanz von irgend etwas sein noch selbständig dem anderen gegenüber bestehen, noch an einem anderen haften kann. Mit anderen Worten: es gibt dann nicht ein Lebendiges neben den lebenden Einzelwesen, und ebenso besteht nichts von allem, was im Begriffe enthalten ist, selbständig für sich.

Wer alles dies sorgsam erwägt, dem wird es gewiß werden, daß nichts von dem, was als Allgemeines besteht, die Bedeutung einer Substanz hat, und daß nichts von dem, was von vielen gemeinsam ausgesagt wird, ein für sich bestehendes Einzelwesen, sondern nur eine Qualität an anderem bezeichnet. Gilt das nicht, so ergibt sich neben anderen bedenklichen Konsequenzen auch die, welche als »der dritte Mensch« bekannt ist. Man kann es aber auch in folgender Weise deutlich machen. Es ist ganz unmöglich, daß eine Substanz wieder aus Substanzen besteht, die ihr als Aktuelles einwohnen. Denn was in dieser Weise in Wirklichkeit zwei ist, kann niemals in Wirklichkeit eins werden; nur wenn sie potentiell zwei sind, können sie eines werden, wie das Doppelte der Möglichkeit nach aus zwei Halben besteht. Denn Aktualität setzt Sonderung. Ist also die Substanz eines, so kann sie nicht aus ihr innewohnenden Substanzen bestehen, und darin hat Demokrit ganz Recht, der es für unmöglich erklärt, daß aus einem zweierlei oder aus zweien eines werde. Er freilich setzt als Substanzen das ausgedehnte Unteilbare. Und ähnlich wird es sich offenbar mit den Zahlen verhalten, wenn doch die Zahl, wie manche annehmen, eine Verbindung von Einheiten ist. Die Zweiheit ist entweder nicht eins, oder die Einheit ist in ihr nicht der Wirklichkeit nach enthalten.

Unser Ergebnis bietet indessen eine ernste Schwierigkeit. Wenn eine Substanz nicht aus Allgemeinem bestehen kann, weil dieses ein Qualitatives, aber nicht ein selbständiges Einzelwesen bezeichnet, und wenn eine zusammengesetzte Substanz nicht der Wirklichkeit nach aus Substanzen bestehen kann, so würde folgen, daß jede Substanz ohne Zusammensetzung[122] ist, und es würde also von keiner Substanz eine Definition geben. Nun ist es aber die allgemeine Ansicht, und wir selber haben es längst oben dargelegt, daß es eine Begriffsbestimmung entweder nur von der Substanz gibt oder doch nur von dieser im eigentlichen Sinne. Nach dem eben Gesagten würde es aber auch von ihr keine Definition geben und also überhaupt von gar nichts. Vielleicht aber löst sich die Schwierigkeit so, daß es wohl in gewissem Sinne eine Definition gibt, in anderem Sinne nicht. Was wir damit meinen, wird aus späteren Ausführungen klarer hervortreten.

Aus dem eben Erörterten wird ersichtlich, was für Konsequenzen sich daraus ergeben, daß man die Ideen als Substanzen, als für sich selbständig bestehende Wesen bezeichnet, und doch zugleich die Form aus der Gattung und den unterscheidenden Merkmalen bestehen läßt. Wenn nämlich die Ideen selbständig existieren und der Begriff »lebendes Wesen« in »Mensch« und in »Pferd« vorhanden ist, so ist dieser Begriff entweder der Zahl nach eines und identisch, oder er ist in beiden als Verschiedenes, im Sinne der Definition ist er offenbar als einer gemeint. Denn der Definierende gibt den Begriff als einen und denselben für beides an. Wenn nun Mensch ein an und für sich bestimmtes und selbständiges Einzelwesen bedeutet, so müssen notwendig auch die Teilbegriffe, woraus der Begriff als aus seinen Momenten besteht, z.B. lebendes Wesen und zweibeinig, bestimmtes Einzelsein bedeuten; alles dies muß selbständig für sich und Substanz sein; also muß auch »lebendes Wesen« Substanz sein. Wenn es nun ein Identisches und Eines ist, was in Pferd und in Mensch enthalten ist, wie jemand mit sich selbst identisch ist: wie vermag das Eine in den vielen, die jedes vom andern getrennt und selbständig existieren, als eines zu existieren? Müßte dann nicht auch dieser Begriff »lebendes Wesen« wieder von sich selbst getrennt und sich selbst gegenüber selbständig existieren können? Wenn aber ein und dasselbe wie lebendes Wesen an dem Begriffe »zweibeinig« und auch an dem »vielbeinig« teilhaben soll, so ergibt sich wieder eine undenkbare Konsequenz: entgegengesetzte Bestimmungen müßten ihm zugleich zukommen, während es doch eines und bestimmtes Einzelwesen sein soll. Aber wenn das nicht der Fall ist, was hat es für einen Sinn, wenn jemand sagt, das lebende Wesen sei zweibeinig oder es sei ein Landtier? Soll etwa damit gemeint sein, daß beides verbunden ist und sich berührt, oder daß es durcheinander gemischt ist? Das alles ist ohne Sinn.

Nun die andere Annahme: die Form sei in jedem Einzelwesen immer wieder als ein anderes. Dann wäre das, was lebendes Wesen zu sein zu[123] seinem Wesensbegriff hat, der Anzahl nach geradezu unendlich vieles. Denn es ist doch keine bloß zufällige Bestimmung, durch die aus dem Begriff lebendes Wesen der Begriff Mensch wird. Und damit würde dann auch der Begriff des lebenden Wesens selber als solcher zu einer Vielheit. Denn in jedem Einzelwesen ist der Begriff lebendes Wesen als Wesensbegriff einwohnend; ist doch dies und nichts anderes der Sinn, in dem er ausgesagt wird. Im anderen Falle, wäre also lebendes Wesen nicht der Wesensbegriff, so müßte der Mensch etwas anderes zu seinem Wesensbegriff haben, und dieses andere würde dann seine Gattung bilden. Und weiter: alle die Bestimmungen, die der Begriff Mensch in sich enthält, müßten selbst wieder Ideen sein, und sie würden nicht etwa die Idee des einen und der Wesensgriff eines anderen sein; denn das ist ausgeschlossen. Also müßte jede einzelne Bestimmung, die der Begriff lebendes Wesen enthielte, mit dem Begriff lebendes Wesen zusammenfallen. Woher aber käme dann der Begriff des lebenden Wesens, und wie könnte aus ihm das einzelne lebende Wesen werden? Oder wie wäre es möglich, daß das lebende Wesen sei, das Substanz ist, und zwar als an sich bestehend, neben dem Begriff des lebenden Wesens, welcher auch an sich besteht? Ferner, was die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände anbetrifft, so ergeben sich mit Bezug auf sie dieselben Konsequenzen und noch widersinnigere als diese. Ist es also unmöglich, daß es sich so verhalte, so ergibt sich offenbar, daß es Ideen der Dinge in dem Sinne, wie manche davon sprechen, nicht gibt.

Substanz ist in dem einen Sinne die Verbindung von Form und Materie, in anderem Sinne ist sie der Begriff. Das heißt: die Substanz in der einen Bedeutung ist der mit der Materie vereinigte Begriff, in der anderen Bedeutung ist sie der Begriff schlechthin. Der Substanz, sofern das erstere darunter gedacht wird, kommt die Vergänglichkeit zu, wie ihr auch das Entstehen zukommt, während für den Begriff als solchen die Vergänglichkeit ebensowenig gilt wie das Entstehen. Denn was entsteht, ist nicht der Begriff des Hauses, sondern dieses einzelne Haus. Begriffe sind und sind nicht, ohne daß sie entstehen oder vergehen. Wir haben gezeigt, daß es für sie keinen Urheber gibt, der sie erzeugte oder herstellte. Eben deshalb nun gibt es auch von den sinnlich wahrnehmbaren Substanzen als von den einzelnen Dingen weder eine Definition noch einen Beweis, weil sie mit Materie verbunden sind, deren Natur es ist, sein und auch nicht sein zu können. Infolgedessen sind sie auch sämtlich als sinnlich einzelne vergänglich.[124]

Gibt es nun einen Beweis nur für das, was notwendig ist, und ist die Definition der Ausdruck für die Erkenntnis des Gegenstandes, so gibt es von dem sinnlich Einzelnen weder Definition noch Beweis. Wie die Erkenntnis unmöglich bald Erkenntnis des Gegenstandes, bald Unwissenheit über ihn sein kann, sondern dies nur vom bloßen Meinen gilt, so kann es unmöglich von dem, was sich auch anders verhalten kann, einen Beweis oder eine Definition, sondern nur eine Meinung geben. Denn was vergänglich ist, das wird für denjenigen, der eine Erkenntnis davon hat, etwas Ungewisses, sobald es aufhört, ein Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung zu sein, und während die Begriffe im Geiste als identisch erhalten bleiben, lassen sich jene Dinge weder definieren noch beweisen. Darum darf man beim Definieren, wenn man eine Begriffsbestimmung für irgend ein Einzelwesen gibt, niemals außer Acht lassen, daß die Definition auch wieder aufgehoben werden kann. Denn ein eigentliches Definieren ist hier unmöglich. Und so ist es denn auch unmöglich, eine Idee zu definieren. Denn die Idee, wie man sie gewöhnlich auffaßt, gehört in die Klasse der Einzelexistenzen und ist etwas Abgetrenntes für sich.

Eine Begriffsbestimmung muß durch Wörter geschehen; wer aber definiert, wird sich die Wörter nicht selbst bilden; damit würde er unverständlich bleiben. Die vorhandenen Wörter aber drücken etwas aus, was mehreren Gegenständen gemeinsam ist, und deshalb müssen sie auch für andere Gegenstände gelten. So würde, wer eine bestimmte Person definieren wollte, sagen, sie sei ein lebendes Wesen, das mager oder von blasser Farbe oder sonst von einer Beschaffenheit sei, die auch anderem zukommt. Wenn aber jemand sagen sollte, es hindere nichts, daß alle diese Bestimmungen jede für sich vielen, ihre Gesamtheit aber nur diesem einen zukomme, so ist darauf zunächst dies zu erwidern, daß sie vielmehr mindestens zweien zukommen; so ist »lebendes Wesen mit zwei Beinen« Prädikat des Lebewesens und auch Prädikat des Zweibeinigen. Und dies muß bei den Ideen als Dingen, die ewig sind, auch notwendigerweise erst recht der Fall sein, da sie das Prius und die Elemente der Zusammensetzung bedeuten, aber weiter auch für sich getrennt Bestehendes sind, wenn doch »Mensch an sich« ein für sich getrennt Bestehendes bedeutet. Denn entweder gilt dies für keines von beiden, oder es gilt für beide. Ist keines von beiden ein Selbständiges, so hat die Gattung keinen Bestand neben den Arten; ist dagegen die Gattung ein selbständig Bestehendes, so gilt dasselbe auch für den artbildenden Unterschied. Denn beide, Gattung und Artunterschied, sind dem Sein nach der[125] Art gegenüber das Prius und werden daher nicht mit aufgehoben, wenn die Art aufgehoben wird.

Weiter aber, wenn die Ideen wieder Ideen zu Bestandteilen haben, so werden die Ideen, die Bestandteile von Ideen sind, als das minder Zusammengesetzte, notwendig auch wieder von vielen Gegenständen ausgesagt werden, wie z.B. lebendig und zweibeinig. Wäre es nicht der Fall, woran sollte man sie erkennen? Dann gäbe es ja eine Idee, die sich nicht von einer Vielheit, sondern nur von einem aussagen ließe. Das aber wäre gegen die Voraussetzung; denn Idee heißt doch immer nur solches, woran eine Vielheit teilhaben kann. Es kommt also, wie gesagt, nur nicht zum Bewußtsein, daß die Möglichkeit des Definierens bei den Ideen als Dingen, die ewig sind, ausgeschlossen ist, eine Folge, die besonders bei den Gegenständen hervortritt, die nur einmal vorkommen, wie Sonne oder Mond. Da begehen sie nicht bloß den Fehler, daß sie dem Gegenstande Bestimmungen beilegen, die man weglassen kann, ohne daß doch deshalb die Sonne aufhörte die Sonne zu sein, wie z.B. daß sie sich um die Erde bewegt, oder daß sie sich bei Nacht verbirgt. Denn gesetzt, sie stände stille oder sie schiene immer, so würde sie danach nicht mehr die Sonne sein, was doch widersinnig wäre; denn Sonne bedeutet einen Wesensbegriff. Andererseits legen sie ihr Merkmale bei, die auch anderen Gegenständen zukommen können. Hätte z.B. ein anderer Gegenstand diese Beschaffenheiten, so würde er offenbar eine Sonne sein; mithin ist diese Bestimmung eine vielem gemeinsame, und doch sollte die Sonne ein Individuelles sein, wie Kleon oder Sokrates. Weshalb stellt denn eigentlich niemand von jenen Leuten eine Definition von einer Idee auf? Wenn sie einmal die Probe machten, so würde daraus schon offenbar werden, daß es mit dem, was wir eben dargelegt haben, seine Richtigkeit hat.

Offenbar ferner sind die meisten Gegenstände, die man für Substanzen ausgibt, bloß potentiell existierende Wesen; so z.B. die Glieder der lebenden Wesen. Denn kein Glied ist etwas für sich Bestehendes, und werden Glieder losgetrennt, so haben sie sämtlich auch bloß die Bedeutung von Materie, ganz ebenso wie Erde, Feuer und Luft, von denen auch keines ein in sich einheitliches Wesen ist, sondern jedes nur einer lockeren Masse gleicht, bevor sie noch verschmolzen und dadurch in ein Einheitliches umgewandelt ist. Am ehesten noch möchte man die Glieder der beseelten Wesen und die Teile der Seele dafür ansehen, daß sie beidem nahe stehen und ein aktuelles und potentielles Sein zugleich haben, dieses als Teile des Ganzen, jenes, sofern sie innere Ursachen ihrer Bewegung in der Einrichtung ihrer Gelenke besitzen, Ursachen, durch die[126] es auch geschieht, daß manche Tiere noch weiter leben, wenn man sie zerschneidet. Indessen bedeutet alles das doch nur ein potentielles Sein, sofern das Ganze, dem sie angehören, Einheitlichkeit und Zusammenhang von Natur besitzt, nicht bloß durch äußere Gewalt oder auch durch bloßes Miteinanderverwachsensein; kommt dergleichen vor, so bedeutet es eine Abnormität.

Man schreibt einem Gegenstande Einheit zu, wie man ihm das Sein zuschreibt. Der Wesensbegriff dessen, was eines ist, ist selber einheitlich, und numerisch eines ist das, dessen Wesensbegriff numerisch einer ist. Daraus geht hervor, daß weder Einheit noch Sein die Substanz der Gegenstände auszumachen vermag, ebensowenig wie es die Bestimmtheit als Element oder als Prinzip vermag. Wir fragen vielmehr, was denn nun das Wesen des Prinzips sei, um es auf etwas Bekannteres zurückzuführen. Jedenfalls hat unter diesen Bestimmungen Einheit und Sein noch eher die Bedeutung der Substanz als Prinzip, Element und Ursache; indessen auch jenes kann nicht dafür gelten, wenn der Satz gilt, daß auch sonst nichts was einer Vielheit gemeinsam ist, selbständig bestehendes Wesen, Substanz, ist. Denn Substanz zu sein kommt keinem zu als der Substanz selbst und dem, worin die Substanz enthalten ist, also dem, dessen Substanz sie ausmacht. Außerdem, was eines ist, das kann nicht zu vielen Malen zugleich sein; das einer Mehrheit Gemeinsame aber ist zu vielen Malen zugleich vorhanden. Offenbar also, daß nichts Allgemeines als ein Getrenntes für sich neben den einzelnen Gegenständen existiert.

Andererseits haben die Anhänger der Ideenlehre insofern Recht, wenn sie die Ideen, vorausgesetzt daß sie Substanzen sind, als selbständig für sich Seiendes bezeichnen; ihr Unrecht besteht nur darin, daß sie als Idee bezeichnen, was in einer Vielheit von Gegenständen das Einheitliche ist. Der Grund ihres Irrtums liegt darin, daß sie nicht anzugeben vermögen, was das für Substanzen sind, die unvergänglich neben den einzelnen und sinnlich wahrnehmbaren Dingen bestehen sollen. Sie stellen sie deshalb dar als der Gestalt nach mit den vergänglichen Dingen, wie sie uns geläufig sind, identisch; sie bezeichnen sie als Menschen an sich und Pferde an sich, indem sie zu der Bezeichnung für die sinnlichen Dinge bloß das Wörtlein »an sich« hinzufügen. Und doch würde es meines Erachtens, auch wenn wir nie ein Gestirn gesehen hätten, deshalb nicht minder ewige Substanzen geben neben den Dingen, von denen wir durch die Erfahrung Kenntnis hätten. Und so wäre doch wohl auch hier, gesetzt auch, wir könnten nicht sagen, was sie sind, die Notwendigkeit anzuerkennen, daß sie sind. – Damit wird klar geworden[127] sein, daß nichts, was als Allgemeines aus gesagt wird, eine Substanz sein, und daß nichts, was Substanz ist, aus Substanzen bestehen kann.

Indessen, um die Frage zu entscheiden, wie man die Substanz auffassen und welche Bestimmungen man ihr zuschreiben muß, wollen wir noch von einem anderen Ausgangspunkte aus vorgehen. Daraus dürfen wir hoffen auch über diejenige Substanz, die von den sinnlich wahrnehmbaren Substanzen getrennt für sich besteht, den rechten Aufschluß zu erhalten.

Da die Substanz die Bedeutung des Prinzips und des Grundes hat, so soll dies für uns den Ausgangspunkt bilden. Man sucht das Warum zu ermitteln immer in dem Sinne, weshalb einem Subjekt ein gewisses Prädikat zukomme. So hat die Frage, weshalb ein kunstverständiger Mann denn eigentlich ein kunstverständiger Mann ist, entweder den Sinn, daß eben nach dem Grunde für das Ausgesagte gefragt wird, also dafür, daß dieser kunstverständige Mann ein kunstverständiger Mann ist, oder sie hat einen anderen Sinn. Nun aber heißt nach dem Grunde fragen, aus dem etwas das ist, was es ist, soviel wie nach gar nichts fragen; denn das Daß und die Tatsache, z.B. daß es eine Mondfinsternis gibt, muß schon feststehen, ehe nach dem Grunde dafür gefragt wird. Daß aber etwas ist was es ist, das gilt für alles in gleicher Weise und aus gleichem Grunde, wie weshalb der Mensch ein Mensch und der Kunstverständige kunstverständig ist; man könnte nur sagen: jegliches ist in bezug auf sich selbst ein von sich selbst Untrennbares, und das würde heißen: es ist ein mit sich Einiges, Identisches. Das aber ist für alles gemeinsam und selbstverständlich. Eine ganz andere Frage wäre die, aus welchem Grunde der Mensch ein lebendes Wesen von dieser bestimmten Art ist. Also soviel ist klar, daß man nicht fragt, aus welchem Grunde derjenige ein Mensch ist, der ein Mensch ist, sondern daß man vielmehr fragt, aus welchem Grunde einem Gegenstande ein von ihm verschiedenes Prädikat zukommt, und daß ihm dieses Prädikat zukommt, muß zuvor feststehen. Stände das nicht fest, so hätte die Frage keinen Sinn. Weshalb z.B. donnert es? das heißt: woher kommt das Getöse in den Wolken? Also, weshalb einem Gegenstande ein von ihm Verschiedenes zukommt, das ist der Sinn der Frage. Aus welchem Grunde bilden diese bestimmten Dinge, wie Ziegel und Quadern, ein Haus? Da fragt man offenbar nachdem Grunde, und Grund bedeutet, das Wort ganz allgemein genommen, dasselbe wie Wesensbegriff. In manchen Fällen ist der Grund der Zweck, wie etwa wo von einem Hause oder einem Bette die Rede ist; in anderen Fällen wieder ist es der Anstoß der Bewegung; denn auch dieser gehört zu[128] den Arten des Grundes. Einen Grund von letzterer Art sucht man für das Entstehen und Vergehen, jene andere Art des Grundes dagegen auch für das Sein. Wonach gefragt wird, das verbirgt sich am ehesten da, wo nicht eines von einem anderen ausgesagt wird, also z.B. wo gefragt wird, weshalb ein Mensch ist, weil hier der Gegenstand einfach gesetzt, aber nicht dieses Subjekt durch dieses Prädikat bestimmt wird. Also man muß die Frage so behandeln, daß man zergliedert und das Verschiedene auseinanderhält; sonst gerät man in Gefahr, eine Frage zu stellen, die keine Frage ist.

Da nun die Tatsache gegeben sein und feststehen muß, so ist die Frage offenbar die nach der Materie, aus welchem Grunde sie etwas Bestimmtes ist. Z.B. aus welchem Grunde bilden diese Stoffe ein Haus? Doch deshalb, weil der Begriff des Hauses darin gegeben ist. Und aus demselben Grunde ist dieses ein Mensch und ist der Leib dieses, weil er diese bestimmte Beschaffenheit hat. Man fragt also nach dem Grunde dafür, daß die Materie dieses Bestimmte ist, und dieser Grund nun ist die Form oder die Substanz. Offenbar also findet solche Frage und solche Bescheidung nicht statt bei dem, was einfach ist; das Einfache muß vielmehr auf andere Weise untersucht werden.

Das was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, daß es ein einheitliches Ganzes bildet, nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute; ba ist nicht dasselbe wie b plus a, und Fleisch ist nicht dasselbe wie Feuer plus Erde. Denn zerlegt man sie, so ist das eine, das Fleisch und die Silbe, nicht mehr vorhanden, aber wohl das andere, die Laute, oder Feuer und Erde. Die Silbe ist also etwas für sich; sie ist nicht bloß ihre Laute, Vokal plus Konsonant, sondern noch etwas Weiteres, und das Fleisch ist nicht bloß Feuer und Erde oder das Warme und das Kalte, sondern noch etwas Weiteres. Wäre dieses Weitere, was hinzukommt, notwendig auch wieder ein Element wie die anderen, oder bestände es aus anderem, so würde, falls es selbst ein Element wäre, dasselbe gelten wie vorher; das Fleisch würde aus diesem Element und aus Feuer und Erde bestehen und noch aus Weiterem, was hinzukommt, und so würde es weiter gehen ins Unendliche. Im anderen Falle, wenn das Weitere, was hinzukommt, selbst wieder aus anderem bestände, so würde es offenbar nicht aus einem, sondern aus mehreren Elementen bestehen müssen, weil es sonst mit dem, woraus es besteht, zusammenfiele, so daß davon eben wieder dasselbe zu sagen sein würde wie von dem Fleisch oder der Silbe. Und so wird man zu der Ansicht gelangen, daß dieses weitere Hinzukommende ein Neues und nicht ein[129] Element des Ganzen ist, und daß dies der Grund dafür ist, daß dieser Gegenstand Fleisch und dieses eine Silbe ist, und ebenso in allen anderen Fällen.

Dieses nun ist die Substanz und der Wesensbegriff jedes Gegenstandes, dieses der oberste Grund für das Dasein des Gegenstandes. Da es aber Dinge gibt, die nicht Substanzen sind, sondern dazu nur diejenigen gehören, die Substanzen sind durch eine innerlich gestaltende Macht, und durch eine solche gebildet sind, so ergibt sich, daß diese innerliche Macht, die nicht ein Element, sondern ein Prinzip bedeutet, die eigentliche Substanz ist. Ein Element dagegen heißt das, worin der Gegenstand als in seine materiellen Bestandteile sich zerlegen läßt, wie bei der Silbe die Laute a und b.

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 120-130.
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