2. Wesen und Aufgabe der Grundwissenschaft

[212] Die Wissenschaft des Philosophen hat zum Objekt das Seiende als solches, dies ganz allgemein und nicht als besonderes genommen. Vom Seienden aber spricht man in mehreren Bedeutungen und nicht bloß in einem Sinne. Wäre nun in der Vielheit der Bedeutungen bloß das Wort und sonst nichts gemeinsam, so fiele das Seiende nicht in das Gebiet einer Wissenschaft; denn das darunter Befaßte würde dann nicht eine Gattung bilden. Nur wenn in den verschiedenen Bedeutungen etwas gemeinsam wäre, dann gehörte dieses Gemeinsame in das Gebiet einer Wissenschaft.

Man kann nun diese Verschiedenheit der Bedeutungen des Seienden vergleichen mit der bei den Wörtern »medizinisch« und »gesund«, die wir[212] beide ebenso in mannigfachem Sinne gebrauchen. Wir gebrauchen sie so, daß wir etwas das eine Mal irgendwie zur medizinischen Wissenschaft, das andere Mal zur Gesundheit, und ein ander Mal wieder zu anderem in Beziehung setzen, aber doch so, daß dabei immer ein einiges und identisches zugrunde liegt, worauf die Beziehung stattfindet. Medizinisch heißt eine Darlegung und ein Instrument davon, daß jene aus der medizinischen Wissenschaft herkommt, dieses für sie brauchbar ist. Und ebenso ist es mit dem Worte gesund. Das eine Mal bedeutet es ein Kennzeichen, das andere Mal eine erzeugende Ursache der Gesundheit. Ebenso ist es bei anderen Wörtern. In dieser Weise wird nun auch vom Seienden gesprochen, jedesmal wo man das Wort braucht. Man bezeichnet etwas als Seiendes deshalb, weil es von einem Seienden als solchen die Affektion oder die dauernde Beschaffenheit oder den Zustand oder die Bewegung oder irgend etwas anderes derartiges darstellt.

Da aber alles Seiende auf ein Einiges und Gemeinsames zurückgeführt wird, so wird auch jeder Gegensatz darin auf die ursprünglichen Unterschiede und Gegensätze im Seienden zurückgeführt werden, sei es daß Vielheit und Einheit, oder daß Ähnlichkeit und Unähnlichkeit oder sonst irgend etwas die obersten Unterschiede im Seienden ausmachen; diese Frage mag durch das an anderer Stelle Erörterte als erledigt gelten. Ob aber die Zurückführung des Seienden auf das Seiende oder auf das Eine geschieht, das macht keinen Unterschied; denn selbst wenn es nicht beides dasselbe, sondern etwas anderes bedeutet, so kann doch das eine für das andere eintreten, weil das Eins im Grunde auch ein Seiendes, und das Seiende ein Eines ist.

Wir haben gesehen, daß jedesmal die einander ent gegengesetzten Begriffe das Objekt der Erforschung für eine und dieselbe Wissenschaft bilden; dabei aber handelt es sich jedesmal um ein Verhältnis der Privation. Gleichwohl könnte es in manchen Fällen eine Schwierigkeit bereiten, auf welche Weise das Verhältnis der Privation da zu nehmen ist, wo es zwischen den Gegensätzen ein Mittleres gibt, wie zwischen ungerecht und gerecht, in allen derartigen Fällen darf man die Privation nicht setzen als Privation des Begriffes überhaupt, sondern nur als Privation seiner extremsten Bedeutung. So wenn der Gerechte der ist, der vermöge einer gewissen dauernden Beschaffenheit dem Gesetze Gehorsam leistet, so wird der Ungerechte nicht durchaus durch die völlige Privation des Begriffes charakterisiert werden, sondern dadurch, daß er es, was den Gehorsam gegen das Gesetz[213] anbetrifft, einigermaßen an sich fehlen läßt, und nur in diesem Sinne wird von Privation bei ihm die Rede sein. Und eben dasselbe gilt auch in anderen Fällen.

Wie nun der Mathematiker seine Untersuchungen anstellt an den aus der Abstraktion stammenden Objekten, genau ebenso verhält es sich mit der Erforschung des Seienden. Der Mathematiker, bevor er die Untersuchung beginnt, streift erst alles Sinnliche ab: Schwere und Leichtigkeit, Härte und das Gegenteil, weiter aber auch Wärme und Kälte und die anderen Gegensätze, die dem Gebiete der sinnlichen Wahrnehmung angehören; er läßt nur das Quantitative übrig und das Kontinuierliche von einer, von zwei und von drei Dimensionen, sodann die Bestimmungen dieser Gegenstände, sofern sie Quanta und sofern sie kontinuierlich sind; alles andere kümmert ihn nicht. Bei der einen Reihe von Gegenständen untersucht er dann die wechselseitige Lage und was ihnen etwa an Eigenschaften zukommt, bei der anderen das gemeinsame Maß oder das Fehlen des gemeinsamen Maßes, bei der dritten wieder die Proportion. Dennoch finden wir in allem diesem die mathematische Wissenschaft als eine und dieselbe wieder. Ganz ebenso nun geht man in der Wissenschaft vom Seienden vor. Die Bestimmungen des Seienden, sofern es eben Seiendes ist, und die Gegensätze in ihm als Seiendem zu betrachten, das bildet die Aufgabe keiner anderen Wissenschaft als der Philosophie. Der Naturwissenschaft wird man zur Untersuchung die Objekte zuweisen, nicht als seiende, sondern als solche, denen Bewegung zukommt. Dialektik und Sophistik handeln wohl auch von den Bestimmungen, die den seienden Gegenständen zufallen, aber nicht sofern sie Seiendes sind, und sie handeln auch nicht von dem Seienden selbst, sofern es Seiendes ist. Es bleibt also nur übrig, daß der Philosoph derjenige ist, der die Aufgabe hat, das Bezeichnete zu untersuchen, sofern es Seiendes ist. Da aber das Seiende insgesamt in allen seinen verschiedenen Bedeutungen immer in Beziehung auf eines und auf ein gemeinsames ausgesagt wird, und in derselben Weise auch die Gegensätze – denn sie werden auf die obersten Gegensätze und Unterschiede im Seienden zurückgeführt - , da ferner alles derartige eben darum die Möglichkeit bietet in das Gebiet einer Wissenschaft zu fallen, so möchte damit die gleich im Anfang erhobene Schwierigkeit, ich meine das Problem, wie es eine Wissenschaft von vielen und der Gattung nach verschiedenen Objekten geben könne, gelöst sein.[214]

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 212-215.
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