1. Prinzip, Grund, Element

[286] Ein Prinzip nennt man erstens den Punkt, von wo aus man bei einem Gegenstande die Bewegung beginnt; wie bei einer Linie oder einem Wege, wo auf dieser Seite der eine, auf der entgegengesetzten Seite der andere Ausgangspunkt liegt. Zweitens aber heißt Prinzip auch das, von wo aus etwas am zweckmäßigsten vollbracht wird; wie man beim Lehren bisweilen nicht mit dem was der Sache nach das Erste und das Prinzip ist, sondern mit dem anfangen muß, von wo aus das Lernen sich am leichtesten vollzieht. Drittens heißt Prinzip der Bestandteil, der für die Entstehung des Ganzen der ursprüngliche ist, wie beim Schiffe der Kiel, beim Hause der Grundstein; bei den lebenden Wesen legen die einen dem Herzen, die anderen dem Gehirn, wieder andere irgend einem anderen Organe diese Bedeutung bei. Viertens heißt Prinzip auch das, was ohne Bestandteil der Sache zu sein bei ihrer Entstehung das Erste ist, das wovon die Bewegung und die Veränderung der Natur der Sache nach als von dem Ersten beginnt; wie für das Kind Vater und Mutter, für den Streit eine Beleidigung. Fünftens das was eine Bewegung oder Veränderung vorsätzlich hervorruft; in diesem Sinne heißt Prinzip die Obrigkeit im Staate, die Herrschermacht, das gesetzliche Königtum und die usurpierte Gewalt, andererseits die Künste und unter diesen wieder vor allem die für andere leitenden. Sechstens heißt Prinzip des Gegenstandes auch das, wovon die Erkenntnis des Gegenstandes als von dem Ersten ausgeht, wie die Vordersätze eines Schlusses.

In ebenso vielfacher Bedeutung nun spricht man auch vom Grunde. Denn alles was Grund ist, ist auch Prinzip. Das Gemeinsame in allen Bedeutungen des Wortes Prinzip ist dies, daß es den Ausgangspunkt bezeichnet dafür, daß etwas ist oder geschieht oder erkannt wird. Dahin gehört teils solches was dem Gegenstande selbst angehört, teils solches was ihm äußerlich ist. Daher ist Prinzip die innere Anlage und das Element, die Überlegung und die Absicht, die begriffliche Wesenheit und der Zweck. Denn[286] es gibt viele Dinge, bei denen das Prinzip für die Erkenntnis wie für die Bewegung die Zweckbeziehung und der Wert bildet.

Grund heißt in einem Sinne das in dem Gegenstande Enthaltene, woraus er wird; so das Erz für die Bildsäule, das Silber für das Gefäß, und ebenso die Gattung, zu der Erz und Silber gehören. In anderem Sinne heißt Grund die Form und das Urbild, also der Wesensbegriff, sowie die jenen übergeordnete Gattung, so für die Oktave das Verhältnis 2 : l, und als höherer Begriff die Zahl, und die Glieder des Verhältnisses. Drittens heißt Grund der Ausgangspunkt für Veränderung und Ruhe; so ist jemand Grund, d.h. Urheber, durch seinen Willen, der Vater für das Kind, überhaupt wer etwas macht für das was gemacht wird, und das was Veränderung setzt für das Veränderte. Viertens ist Grund der Zweck, also das Wozu, wie für das Spazierengehen die Genesung. Denn auf die Frage: wozu geht jemand spazieren? antworten wir: um gesund zu werden, und mit dieser Antwort meinen wir den Grund bezeichnet zu haben. So heißt denn Grund auch, was in der Mitte liegt zwischen dem Anstoß der Bewegung und dem Ziele; so für die Genesung die Entfettungskur oder das Abführen, die Arzenei oder die Instrumente, lauter Dinge, die zu dem Zwecke als Mittel dienen, aber sich unterscheiden wie die Veranstaltung und ihre Verrichtung.

Das etwa sind die Bedeutungen, in denen man von Grund spricht. Daher kommt es, daß, da Grund in mehreren Bedeutungen gebraucht wird, eines und dasselbe mehrere Gründe haben kann, und nicht bloß nebensächlicherweise. So hat die Bildsäule ihren Grund in der Bildhauerei, aber auch im Erz, und beides nicht in anderer Beziehung, sondern eben als Bildsäule; aber doch nicht in gleichem Sinne; sondern das eine ist Grund als Materie, das andere als bewegende Ursache. Es kann auch jedes wechselsweise der Grund des anderen sein. So ist die Anstrengung Grund des Wohlbefindens, und dieses Grund der Anstrengung; aber auch wieder beides nicht in demselben Sinne, sondern das eine im Sinne des Zweckes, das andere im Sinne der bewegenden Ursache. Weiter aber ist bisweilen eines und dasselbe der Grund für Entgegengesetztes. Was nämlich durch sein Vorhandensein den Grund für dieses Bestimmte bildet, das nehmen wir bisweilen, wenn es nicht vorhanden ist, als Grund für das Entgegengesetzte in Anspruch; so die Abwesenheit des Steuermanns als Grund für das Scheitern des Schiffes, wie seine Anwesenheit den Grund für die Erhaltung des Schiffes bildete. Beides, Vorhandensein und Nichtvorhandensein aber, sind Grund im Sinne der bewegenden Ursache.[287]

Die Gesamtheit dessen, was wir eben als Grund bezeichnet haben, läßt sich unter vier Arten zusammenfassen, die aufs deutlichste ins Auge fallen. Die Laute sind Grund der Silbe, das Material Grund des daraus Gefertigten, Feuer, Erde und dergleichen Grund der körperlichen Dinge, die Teile Grund des Ganzen, die Vordersätze Grund des Schlusses, alles dies im Sinne des Woraus, das eine als Substrat, wie die Teile, das andere als begriffliche Wesenheit, als Ganzes, Verbindung und Form. Der Same dagegen, der Arzt, der Wille, überhaupt das Tätige, Hervorbringende, dieses alles ist Grund als Ursache der Veränderung oder des Beharrens. Dazu kommt das was Grund ist im Sinne des Zieles und Zweckes für das andere. Denn das Wozu beansprucht für das andere das Wertvollste und das Ziel zu sein. Dabei mag der Unterschied zwischen dem an sich und dem nur anscheinend Zweckmäßigen unerörtert bleiben.

Dies alles also heißt Grund, und so viele Arten des Grundes gibt es. Der besonderen Beziehungen freilich, die beim Begriffe Grund vorkommen, gibt es eine Menge; doch lassen sich auch diese auf eine geringere Zahl zurückführen. Man spricht von Gründen in vielfacher Beziehung, und innerhalb einer und derselben Art des Grundes ist das eine der nähere, das andere der entferntere Grund. So ist Grund der Genesung der Arzt, aber auch der Sachkundige; Grund der Oktave das Verhältnis 2: l, aber auch die Zahl; und so jedesmal das Allgemeine, das das Einzelne unter sich befaßt. Dann ferner die zufällige Bestimmtheit und die Gattung, zu der sie gehört. So ist Grund der Bildsäule in einem Sinne Polykleitos, im anderen Sinne ein Bildhauer, weil der Bildhauer zufällig Polykleitos ist; ferner das was für die zufällige Bestimmung das höhere Allgemeine ist. So ist Grund der Bildsäule ein Mensch oder noch allgemeiner, ein lebendes Wesen, weil Polykleitos ein Mensch und der Mensch ein lebendes Wesen ist. Aber auch unter den zufälligen Bestimmungen liegt die eine näher, die andere entfernter. So wenn man sagen wollte, Grund der Bildsäule sei ein bleicher oder ein gebildeter Mensch, statt zu sagen Polykleitos oder ein Mensch.

Alles ferner, was als Grund bezeichnet wird, sei es in eigentlichem Sinne, sei es im Sinne der zufälligen Bestimmung, wird teils als Potentielles, teils als Aktuelles genommen. So ist Grund des Hausbaues entweder der Bauverständige als solcher, oder der wirklich bauende Bauverständige. Dasselbe wird nun gelten wie vom Gründe so auch von dem was durch den Grund gesetzt wird, also von dieser Bildsäule oder von einer Bildsäule überhaupt oder noch allgemeiner von einem Bildwerk, und ebenso von[288] diesem bestimmten Erz oder vom Erz überhaupt oder von der Materie im allgemeinen. Und bei den zufälligen Bestimmungen ist es ebenso. Beides wird dann auch in der Aussage mit einander verbunden, und so wird als Grund angegeben nicht Polykleitos und nicht ein Bildhauer, sondern der Bildhauer Polykleitos.

Indessen, alles dies geht doch auf die Anzahl von sechs verschiedenen Bedeutungen zurück, von denen jede wieder in zwiefachem Sinne vorkommt. Der Grund wird ausgesagt als Einzelnes oder als die Gattung, zu der es gehört; als zufällige Bestimmung oder als die Gattung dieser Bestimmung; und dieses beides wieder in Verknüpfung oder jedes für sich allein; alles dies aber als aktuell oder als potentiell. Dabei zeigt sich der Unterschied, daß bei dem Aktuellen und Einzelnen mit dem Sein oder Nichtsein des Grundes auch das, dessen Grundes ist, ist oder nicht ist; so dieser behandelnde Arzt und dieser sein Patient, dieser Baumeister und dieser Hausbau, während es sich bei dem, was potentiell ist, nicht immer so verhält. Denn mit dem Baumeister vergeht nicht zugleich auch sein Bauwerk.

Ein Element nennt man das, was den ursprünglichen Bestandteil der Sache bildet und sich nicht wieder in andersartige Bestandteile zerlegen läßt. So sind Elemente des Sprachlauts die letzten Teile aus denen er zusammengesetzt ist und in die er sich zerlegen läßt, während sie nicht wieder in andere, der Art nach von ihnen verschiedene Laute zerlegt werden können. Sofern sie sich aber zerlegen lassen, so geschieht es in Teile von gleicher Art; so bei den Teilen des Wassers, die wieder Wasser sind, aber nicht bei den Teilen der Silbe. Diejenigen, die die letzten Bestandteile bezeichnen, in die sich die Körper zerlegen lassen, und die nicht wieder in andere der Art nach verschiedene zerlegbar sind, bezeichnen damit ebenso die Elemente der Körper; ob sie nun ein einziges oder mehrere derartige annehmen, unter Elementen verstehen sie eben dies. In ähnlichem Sinne spricht man dann auch von Elementen der mathematischen Beweise und der Beweise überhaupt. Als Elemente der Beweise bezeichnet man die grundlegenden Beweise, diejenigen, die in einer Vielheit von Beweisen immer wieder vorkommen; es sind das die obersten Syllogismen aus drei Gliedern vermittelst eines Mittelbegriffs. In übertragenem Sinne nennt man dann von hier aus auch das ein Element, was an sich einheitlich und geringfügig, doch zu vielen Zwecken verwendbar ist; in diesem Sinne wird auch das Geringe, Einfache, Unteilbare ein Element genannt. Daher kommt es, daß das, was am meisten allgemein ist, als Element gilt, weil ein jedes solches einheitlich[289] und einfach ist und in vielen Gegenständen, in allen oder doch in der Mehrzahl, vorkommt, und daß bei manchen auch die Einheit und der Punkt für ein solches Erstes und Ursprüngliches gilt. Da nun was man Gattungen nennt ein Allgemeines und Unzerlegbares bedeutet, – kann man sie doch auch nicht definieren, – so bezeichnen manche die Gattungen als Elemente, und zwar sie in eigentlicherem Sinne als ihre Artunterschiede, weil nämlich die Gattung in höherem Maße Allgemeines ist. Denn wo der Artunterschied vorhanden ist, da ist damit auch die Gattung gegeben; aber nicht jedesmal ist, wo die Gattung vorhanden ist, auch der Artunterschied gegeben. In allen diesen Anwendungen ist das Gemeinsame dies, daß in jedem Falle das Element den ursprünglichen Grundbestandteil des Gegenstandes bedeutet.

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 286-290.
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