b) Gerechtigkeit in weiterem und engerem Sinne

[97] Was wir indessen hier im Auge haben, ist die Gerechtigkeit als ein Bestandteil der Sittlichkeit; denn eine solche gibt es, wie wir behaupten, und ebenso gibt es eine Ungerechtigkeit als Bestandteil der Unsittlichkeit. Der Beweis dafür ist der: Wer eine Handlung begeht im Sinne der anderen Arten von Unsittlichkeit, läßt sich zwar Ungerechtigkeit zuschulden kommen, aber er maßt sich dabei nicht etwas auf fremde Kosten an; so z.B. wer[97] seinen Schild aus Feigheit wegwirft oder wer im Verdruß jemanden beleidigt oder aus Geiz jemand eine Unterstützung versagt. Wenn einer aber sich übermäßig bedenkt, so liegt sein Verstoß oftmals in keiner einzigen dieser Beziehungen, aber auch nicht in allen zusammen, und doch handelt er unsittlich, / denn wir mißachten ihn deshalb, / und zwar handelt er ungerecht. Also gibt es noch eine andere Art von Ungerechtigkeit, die eine besondere Art der Ungerechtigkeit im weiteren Sinne bildet, und es gibt ein Ungerechtes im speziellen Sinne gegenüber dem Ungerechten im umfassenderen Sinne, wo es das Gesetzwidrige überhaupt bedeutet. Sodann, wenn der eine Unzucht treibt um des Gewinnes willen und dafür Bezahlung nimmt, ein anderer es aus Leidenschaft tut und dafür noch Geld ausgibt und Opfer bringt, so darf man den letzteren eher für ausschweifend als für selbstsüchtig, jenen dagegen darf man für ungerecht, aber man darf ihn nicht für ausschweifend halten, und der Grund ist offenbar der, weil jener es des Gewinnes halber tut. Außerdem, bei allen anderen Arten gesetzwidriger Handlungen läßt sich immer die Zurückführung auf irgendeine unsittliche Charaktereigenschaft vornehmen, z.B. bei der Unzucht auf ausschweifende Sinnlichkeit, bei der Flucht aus Reih und Glied auf Feigheit, bei körperlicher Mißhandlung auf Jähzorn; hat einer aber um des Gewinnes willen gehandelt, so ist der Charakterfehler, der vorliegt, kein andrer als eben die Ungerechtigkeit. Offenbar also gibt es neben der Ungerechtigkeit im weitesten Sinne noch eine andere im speziellen Sinne, die durch dasselbe Wort bezeichnet wird, weil sie ihrem Begriffe nach zu derselben Gattung gehört. Denn das Gebiet für beide bildet das Verhalten anderen Menschen gegenüber; nur daß es sich bei der einen um Ehre, Geld, Selbsterhaltung handelt, oder wenn wir einen Ausdruck dafür hätten, um das, was dieses alles in sich befaßt, und daß ihre Quelle die Lust am Gewinne ist, während es sich bei der anderen um alles dasjenige handelt, was einen sittlichen Charakter beansprucht.

Soviel also ist klar, daß Gerechtigkeit mehrere Bedeutungen hat, und daß es neben der Gerechtigkeit, die den Inbegriff aller Sittlichkeit bedeutet, noch eine andere gibt. Was das Wesen und die Beschaffenheit dieser letzteren ist, das bleibt zu untersuchen. Das Ungerechte haben wir bestimmt als das, was wider das Gesetz und was wider die Gleichheit anläuft, das Gerechte dagegen als das, was dem Gesetz und der Gleichheit entspricht. Nun hatte die Ungerechtigkeit, von der vorher die Rede war, die Bedeutung des Gesetzwidrigen. Da aber das was wider die Gleichheit ist nicht dasselbe[98] ist wie das was wider das Gesetz ist, sondern ein anderes, so wie der Teil dem Ganzen gegenüber steht, / denn was wider die Gleichheit ist, ist zwar alles auch wider das Gesetz, aber nicht alles was wider das Gesetz ist, ist auch wider die Gleichheit, / so ist auch das Ungerechte und die Ungerechtigkeit nicht in beiden Bedeutungen dasselbe, sondern beides ist verschieden, das eine als das Ganze, das andere als ein Teil. Denn Ungerechtigkeit in diesem Sinne ist ein Teil der Ungerechtigkeit überhaupt, und ebenso Gerechtigkeit in diesem Sinne ein Teil der Gerechtigkeit überhaupt. Wir haben daher über die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit im engeren Sinne und über das Gerechte und Ungerechte im gleichen Sinne zu handeln.

Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, sofern sie sich auf den Inbegriff alles Sittlichen beziehen, die eine als die Betätigung des sittlichen, die andere als Betätigung des unsittlichen Charakters in seiner Totalität in dem Verhältnis zu den andern Menschen, mögen damit als erledigt gelten. Auch wie das Gerechte und Ungerechte in diesem Sinne zu bestimmen ist, leuchtet ein. Denn so ziemlich die ganze Masse der dem Gesetze entsprechenden Handlungen macht das aus der Sittlichkeit in ihrem Totalbegriffe entspringende Handeln aus. Gebietet doch das Gesetz ein Leben im Sinne jeder Art von sittlicher Willensrichtung und verbietet ein Leben im Sinne jeder Art von Unsittlichkeit. Die Sittlichkeit in diesem vollen Sinne hervorzubringen ist die Aufgabe derjenigen gesetzlichen Bestimmungen, die die Erziehung für den Dienst der öffentlichen Interessen ordnen. Was dagegen die Erziehung des einzelnen zu einer sittlich wertvollen Persönlichkeit ohne weiteren Zusatz anbetrifft, so soll später entschieden werden, ob säe eine Aufgabe der Staatstätigkeit oder einer anderen Instanz bildet. Denn ein sittlich wertvoller Mensch und ein guter Bürger in irgendeinem Staate zu sein, ist doch entschieden nicht dasselbe.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 97-99.
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