a) Das Recht im Staat und in der Familie

[108] Nun kann es aber ganz wohl vorkommen, daß einer ungerecht handelt, ohne doch ein ungerechter Mensch zu sein. Es ist also die Frage: was sind das für ungerechte Handlungen in jeder Art von ungerechter Handlungsweise, die den der sie begeht, als einen Menschen von ungerechtem Charakter, etwa einen Dieb, einen Ehebrecher, einen Räuber kennzeichnen? Oder sollte der Unterschied gar nicht in der Art der Handlungen liegen? Es könnte einer mit einem Weibe Umgang haben bei vollem Wissen, wer sie ist, und doch wäre es möglich, daß nicht bewußter Vorsatz, sondern heftige Leidenschaft dazu den Antrieb bildet. Dann tut er also unrecht und ist dennoch kein ungerechter Mensch, ebensowenig wie einer jedesmal ein Dieb ist, der doch gestohlen hat, oder der ein Ehebrecher ist, der die Ehe gebrochen hat, und was sonst dahin gehört.

Im Vorhergehenden haben wir erörtert, wie sich die Vergeltung zum Gerechten verhält. Wir dürfen aber dabei nicht vergessen, daß es sich in unserer Untersuchung um zweierlei verschiedene Dinge handelt, um das Gerechte, was gerecht ist ohne weiteres, und um das Recht, das im Staate gilt. Das letztere hat seine Stelle da, wo eine Anzahl Personen sich zu einer Lebensgemeinschaft zusammengeschlossen haben, um ein sich selbstgenügendes Ganzes zu bilden als Freie und Gleiche, sei nun die Gleichheit eine Gleichheit der Proportion oder eine einfach zahlenmäßige. In den Vereinigungen von Menschen dagegen, wo diese Bedingungen nicht zutreffen, da gilt für die gegenseitigen Beziehungen nicht das staatliche Recht; aber ein Gerechtes gilt doch auch hier, und zwar eines in verwandtem Sinne. Denn wo unter Menschen ein Gesetz für ihre gegenseitigen Beziehungen besteht, da gibt es auch ein Gerechtes, ein Gesetz aber gibt es, wo es unter Menschen die Möglichkeit des Unrechts gibt. Denn das Recht setzt die Scheidung[108] dessen was gerecht und dessen was ungerecht ist. Menschen nun von ungerechter Gesinnung verüben auch ungerechte Handlungen; aber nicht alle Menschen, die ungerechte Handlungen verüben, haben auch eine ungerechte Gesinnung. Diese Handlungsweise aber besteht darin, daß man von dem was an und für sich ein Gut ist sich selbst zuviel und von dem was an und für sich ein Übel ist sich selbst zuwenig zuwendet. Darum überläßt man denn auch die Herrschaft nicht einem Menschen, sondern dem Gesetz, weil ein Mensch die Herrschaft leicht in seinem persönlichen Interesse gebraucht und so zum Gewaltherrscher wird. Der Herrscher aber ist der Bewahrer des Gerechten, und weil des Gerechten, damit auch des Gleichen. Da er aber für sich kein Zuviel begehrt, wenn er doch ein gerechter Mann ist, denn er beansprucht für sich von dem was an und für sich ein Gut ist nicht ein Mehr, wenn es ihm nicht der Proportionalität nach zukommt, und seine Mühewaltung geschieht insofern im Dienste der anderen; daher denn auch das Wort: die Gerechtigkeit des einen sei ein Vorteil für den anderen, das wir schon oben erwähnt haben, so muß man ihm also einen Lohn gewähren, und dieser besteht in Ehre und Vorrang; diejenigen aber, denen das nicht genügt, werden zu Gewaltherrschern. Das Recht des Herrn aber über den Sklaven und das des Vaters über die Kinder ist mit dem eben bezeichneten nicht dasselbe, sondern ihm nur verwandt. Denn gegen diejenigen, die schlechthin zu unserer Person gehören, kann man kein Unrecht üben; der Sklave aber und das Kind, solange bis es das Alter erreicht hat um selbständig zu werden, ist wie ein Teil des Hausherrn; niemand aber hat den Vorsatz sich selbst zu schädigen. Darum also kann man diesen kein Unrecht zufügen. Mithin gibt es in diesem Verhältnis auch kein Unrecht und kein Recht wie das, das in der Staatsgemeinschaft gilt. Denn dieses war dem Gesetze gemäß und galt für Menschen, für die es der Natur der Sache nach ein Gesetz gibt; das waren aber Menschen, zwischen denen Gleichheit herrschte sowohl was das Herrschen als was das Beherrschtwerden anbetrifft. Daher gibt es auch ein Gerechtes noch eher im Verhältnis zu der Frau als zu den Kindern und Sklaven. Denn dieses ist das Gerechte, wie es im häuslichen Leben herrscht; allerdings aber ist auch dieses von anderer Art als das Recht, das im Staatswesen gilt.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 108-109.
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