h) Unrecht der Person wider sich selbst

h) Unrecht der Person wider sich selbst

[119] Aus unseren Erörterungen ergibt sich nun auch die Antwort auf die Frage, ob es möglich ist sich selbst Unrecht zu tun oder nicht. Was dem Gebiete des Gerechten angehört, wird bezeichnet durch das was das Gesetz in bezug auf jeden Zweig sittlicher Lebensführung anordnet, z.B. das Gesetz gebietet nicht, sich selbst zu töten, und was es nicht zu töten gebietet, das zu töten verbietet es. Ferner, wenn jemand widerrechtlich einen anderen mit freiem Willen schädigt und damit nicht bloß erlittene Verletzung vergilt, so tut er Unrecht; mit freiem Willen aber tut es, wer die Person, die er trifft, und das Werkzeug kennt. Wer nun in leidenschaftlicher Aufregung sich tötet, der tut wollend wider die gesunde Einsicht, was das Gesetz nicht zuläßt; also fügt er Unrecht zu. Aber wem? doch wohl dem Staate, nicht sich selber. Denn er erleidet es mit seinem Willen; niemand aber erleidet mit seinem Willen Unrecht. Darum setzt auch der Staat eine Strafe darauf. Wer Hand an sich legt, der wird für ehrlos erklärt als ein Mann, der sich gegen den Staat widerrechtlich vergangen hat.

Zweitens aber, versteht man unter einem ungerechten Menschen einen solchen, der bloß widerrechtlich handelt, ohne doch sonst eine widerrechtliche Gesinnung zu haben, so ist es auch in diesem Sinne nicht möglich sich selbst Unrecht zu tun. Hier liegt die Sache anders als vorher. Der Ungerechte ist etwa in dem Sinne ein schlechter Mensch wie es der Feigling ist, nicht als hätte er alle möglichen Arten von Schlechtigkeit an sich; also tut er auch nicht in diesem Sinne sich selbst Unrecht. Denn dann müßte immer einem und demselben Menschen ein und dasselbe zugleich weggenommen und zuerteilt werden können. Das aber hat keinen Sinn; sondern wo von gerechter und ungerechter Zuerteilung die Rede sein soll, da muß sie notwendig immer unter einer Mehrheit von Personen stattfinden. Es muß ferner die Handlung frei gewollt, vorsätzlich und ohne Herausforderung geschehen sein. Denn wer tätig wird aus dem Grunde, weil er Unrecht erfahren hat, und in der Absicht dieses zu vergelten, der, meint man, tut kein[119] Unrecht. Wer aber sich selbst Unrecht täte, würde in einer und derselben Person dasselbe Unrecht, was er zufügt, auch erleiden. Weiter aber müßte es dann auch möglich sein, mit Willen Unrecht zu erleiden. Außerdem, niemand fügt Unrecht zu, ohne daß seine Handlung eine besondere Art von rechtswidrigen Handlungen darstellte; es treibt aber niemand Ehebruch mit seiner eigenen Frau oder bricht in sein eigenes Haus ein oder bestiehlt sich selbst. Überhaupt, auch die Frage, ob jemand sich selbst Unrecht tun kann, findet ihre Beantwortung auf Grund der Entscheidung darüber, ob jemand mit seinem Willen Unrecht erleiden kann.

Augenscheinlich nun ist beides übel, Unrecht leiden und Unrecht zufügen. Das eine bedeutet so viel wie weniger, das andere wie mehr empfangen als die rechte Mitte gebietet; dieser rechten Mitte entspricht das was in der Heilkunst der gesunde, in der Gymnastik der kräftige Körper bedeutet. Aber Unrecht zufügen ist doch das Schlimmere. Denn Unrecht zufügen beweist einen sittlichen Mangel und erregt Mißbilligung; dieser sittliche Mangel ist entweder ein vollständiger und uneingeschränkter, oder er grenzt doch daran; denn nicht alles mit Willen begangene Unrecht deutet auf eine rechtswidrige Gesinnung. Dagegen beweist Unrecht leiden keinen sittlichen Mangel noch rechtswidrige Gesinnung. An und für sich ist also Unrecht leiden das geringere Übel; doch hindert nichts, daß begleitende Umstände es zum größeren Übel machen. Indessen, das geht die wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes nichts an. Diese erklärt eine Lungenentzündung für eine schwerere Erkrankung als eine Verletzung durch einen Stoß; gleichwohl kann dieser durch zufällige Komplikation zum schlimmeren Übel werden; es kann sich etwa treffen, daß einer durch den Stoß zu Falle kommt und infolgedessen von den Feinden gefangen genommen oder getötet wird.

Nur in übertragenem Sinne, nur im Sinne der Analogie kann die Rede davon sein, daß jemand gegen sich selbst gerecht sei. Nicht er selber ist gerecht gegen sich selbst, er ist es vielmehr nur gegen gewisse Seiten seiner Persönlichkeit, und gerecht auch so nicht in jeder Bedeutung, sondern gerecht nur wie ein Herr gegen den Sklaven oder wie ein Hausvater gegen seine Kinder. Bei Überlegungen von dieser Art unterscheidet man in der Seele den vernünftigen Teil von dem vernunftlosen, und wenn man die Sache so ansieht, dann läßt sich allerdings verstehen, wie es ein Unrecht geben kann gegen die eigne Person. Denn dann gibt es eine Möglichkeit, daß diese verschiedenen Seelenteile der eine etwas von dem anderen erleiden, was ihrem eigenen[120] Antriebe widerspricht. So gebe es also, sagt man, ein Gerechtes auch für diese, wie es ein Gerechtes gibt im gegenseitigen Verhältnis zwischen dem Herrschenden und dem Beherrschten.

So mag denn die Frage nach der Gerechtigkeit und den anderen Formen sittlicher Willensrichtung auf diese Weise ihre Beantwortung gefunden haben.[121]

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 119-122.
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