2. Überlegung und Vorsatz

[123] In der Seele nun gibt es drei Vermögen, die das Handeln wie die Wahrheitserkenntnis beherrschen: die sinnliche Wahrnehmung, das Denken und das Wollen. Unter diesen dreien enthält die sinnliche Wahrnehmung kein Prinzip für irgendwelche Tätigkeit. Das sieht man schon daran, daß die Tiere wohl sinnliche Wahrnehmung, aber keinen Anteil am praktischen Verhalten haben. Was nun im Denken die Bejahung und die Verneinung ist, das ist im Wollen das Begehren und das Meiden. Da also die sittliche Willensbeschaffenheit die befestigte Richtung auf die Bildung von Vorsätzen bestimmter Art, diese befestigte Richtung aber ein auf denkende Überlegung begründetes Wollen ist, so muß eben deshalb der dadurch gewonnene Satz ein wahrer und das Wollen ein richtig gebildetes sein, falls der Vorsatz billigenswert sein soll, und das was das Urteil aussagt und das was[123] der Wille anstrebt muß identisch sein. Diese denkende Reflexion und die von ihr gefundene Wahrheit ist also von praktischer Art. Das was sich im rein theoretischen Denken, sofern es weder ein Handeln noch ein Gestalten bezweckt, aus dem richtigen und aus dem verfehlten Verfahren ergibt, das ist das Wahre und das Falsche; denn das ist die Funktion alles gedanklichen Verfahrens. Wo es sich aber um ein auf praktisches Verhalten gerichtetes Nachdenken handelt, da entspricht die Wahrheit dem richtigen Begehren. Der Ausgangspunkt für das Handeln nun ist der Vorsatz; er ist es als Anstoß der Bewegung, nicht als Zweck. Der Ausgangspunkt für die Bildung des Vorsatzes aber ist das Begehren und die durch den Zweck bestimmte Überlegung. Daher gibt es keine Vorsatzbildung ohne reflektierendes Denken einerseits und ohne befestigte Richtung in sittlicher Beziehung andererseits; es gibt so wenig eine richtige wie eine entgegengesetzte Handlungsweise ohne diese beiden Momente, die Reflexion und die Charakterbestimmtheit. Dagegen gibt die Reflexion als solche noch keinen Grund der Bewegung ab, sondern erst die durch den Zweck und die Beziehung auf das Handeln geleitete Reflexion. Diese nun beherrscht auch die gestaltende Tätigkeit. Denn wer etwas gestaltet, der tut es jedesmal im Hinblick auf einen Zweck, und nicht ein Zweck ohne weiteres, sondern erst der Zweck als bezogen auf etwas Bestimmtes und als Gestaltung von etwas Bestimmtem, liefert den Inhalt des Gestaltens. Beim Handeln dagegen leistet es der Zweck ohne weiteres. Denn das Ziel ist hier das richtige Handeln selber, nicht die Herstellung eines Objekts, und darauf ist das Streben gerichtet. Darum ist ein Vorsatz entweder ein begehrendes Denken oder ein gedankliches Begehren, und der Urheber eines Handelns von diesem Charakter ist der Mensch.

Was nun den Inhalt eines Vorsatzes bildet, ist niemals ein Vergangenes. So nimmt sich niemand vor, Ilium zerstört zu haben. Was vergangen ist, überlegt man sich nicht, sondern was zukünftig ist und was möglicherweise eintreten kann; denn das Vergangene schließt die Möglichkeit aus nicht eingetreten zu sein. So sagt Agathon mit Recht:


Denn dies allein, selbst einem Gotte bleibt's versagt;

Geschehne Dinge ungeschehn macht auch kein Gott.


So ist denn die Wahrheitserkenntnis die Funktion beider Teile des Vernunftvermögens, und die eigentliche Vollkommenheit beider besteht in der befestigten Beschaffenheit, vermöge deren jede derselben die Wahrheit zu treffen imstande ist.[124]

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 123-125.
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