4. Praktische Einsicht

[130] Aus dem Dargelegten geht hervor, daß Geisteskultur Erkenntnis und intuitives Erfassen der ihrer Natur nach höchststehenden Gegenstände ist. Darum schreibt man Männern wie Anaxagoras, Thales und ihresgleichen wohl hohe Geisteskultur, aber nicht auch praktische Einsicht zu, in der Erwägung, daß sie ihre persönlichen Interessen nicht wahrzunehmen wußten. Man sagt von solchen, daß ihre Kenntnisse überschwänglich, die Gegenstände derselben bewundernswert, schwierig und göttlich, aber nichts fürs Leben Brauchbares seien, weil ihr Forschen nicht auf das gerichtet ist, was der menschlichen Natur dienlich ist.

Dagegen hat die praktische Einsicht die menschlichen Dinge, dasjenige worüber sich eine Überlegung anstellen läßt, zum Gegenstande. Denn dem praktisch Einsichtigen schreiben wir am allermeisten dies als seine Leistung zu, daß er richtige Überlegungen anstellt. Es überlegt sich aber niemand dasjenige, was sich nicht anders verhalten kann, oder was kein Ziel und keinen Zweck hat; Ziel und Zweck aber ist das durch Handeln zu bewirkende Gute. Zu rechter Überlegung befähigt schlechthin ist also der Mann, der auf Grund vernünftigen Nachdenkens auf dasjenige als sein Ziel gerichtet ist, was unter dem durch Handeln zu Verwirklichenden für den Menschen das allerdienlichste ist.

Praktische Einsicht hat zum Gegenstande nicht bloß das Allgemeine, sondern es wird von ihr gefordert, daß sie auch über das Einzelne Bescheid wisse. Denn sie bezieht sich auf das Praktische, alle Praxis aber bewegt sich in der Einzelheit. Daher kommt es, daß manche Leute ohne ein Wissen zu besitzen, zu praktischer Ausübung auch auf anderen Gebieten doch tüchtiger sind als andere Leute mit solchem Wissen: es sind das die erfahrenen Leute. Kennt einer den Satz, daß Fleisch, wenn es leicht ist, auch leicht zu verdauen und gesund ist, weiß aber nicht, welche Art von Fleisch leicht ist: so wird er die Gesundheit herzustellen nicht imstande sein. Der dagegen, der weiß, daß das Fleisch von Geflügel leicht und gesund ist, der wird es eher bewirken können. Die Einsicht geht aufs Praktische; sie muß also beides haben, das Wissen und die Erfahrung vom Einzelnen, ja letzteres noch dringlicher. Aber es gibt auch innerhalb ihrer eine werkmeisterliche, eine leitende Kunst.

So ist denn auch die Kunst des Staatsmanns und praktische Einsicht eine und dieselbe Eigenschaft, ohne daß sie doch ihrem Begriffe nach zusammenfielen. Der eine Zweig der Staatskunst ist als werkmeisterliche, leitende[130] Kunst die Kunst der Gesetzgebung: der andere, der die Einzelfälle behandelt, führt den allgemeinen Namen Politik in engerer Bedeutung. Diese ist praktische Geschicklichkeit und auf Beratung gegründet; denn ein einzelner Beschluß hat zum Inhalt ein zu tuendes als den Schlußsatz eines Syllogismus. Darum sagt man allein von diesen Männern, daß sie Politik treiben; denn sie allein üben eine praktische Beschäftigung wie die gewöhnlichen Arbeiter. Man hält aber auch dafür, daß die Einsicht am meisten den Handelnden selbst und den Einzelnen ins Rüge faßt, und so verstanden führt sie den allgemeinen Namen Einsicht. Dahin gehört aber auch Haushaltung, Gesetzgebung und Politik, und diese letztere ist teils beratende Tätigkeit, teils Rechtspflege. Das Wissen von dem was einem selber gut ist, ist demnach eine Art der Einsicht; indessen es liegt dazwischen doch ein gewaltiger Unterschied. Wer sich auf seine eigenen Interessen versteht und sich damit beschäftigt, gilt für einsichtig; die Politiker aber heißen vielgeschäftige und vielgeplagte Leute. So sagt Euripides:


Ich wäre einsichtsvoll, der fern von Müh und Not,

Zur Meng' im Heere zählend und ihr gleichgestellt,

Das gleiche könnt' erlangen [mit dem Weisesten?

Denn nichts ward je so Glänzendes wie solch ein Mann.]

Die weit vorragen und ein Mehr von Leistung tun,

[Die ehrt man, schätzt als Häupter sie im Staat.]


Die Menschen sorgen für ihr eigenes Interesse und meinen, das ins Werk zu setzen sei ihre Aufgabe, und aus dieser Ansicht also stammt es, daß ihnen diese Leute als die Einsichtigen gelten. Und doch ist es schwerlich möglich das eigene Wohl zu schaffen, ohne für das Hauswesen und ohne für das Staatswesen mit bedacht zu sein. Überdies, wie man sein eigenes Wohl besorgen soll, ist keineswegs an sich klar und bedarf der Untersuchung.

Ein Beweis für unsere Ausführungen liegt auch darin, daß junge Leute wohl Geometrie lernen und geschickte Mathematiker werden und in dergleichen Gegenständen sich hohe Bildung erwerben, daß aber ein junger Mensch nicht wohl einsichtsvoll werden mag. Der Grund ist der, daß praktische Einsicht auch die Einzelfälle zum Gegenstande hat, die man durch Erfahrung kennen lernt, ein junger Mensch aber keine Erfahrung hat. Denn Erfahrung wird durch die Länge der Zeit bedingt. Weiter aber ist auch das eine Frage, weshalb ein Knabe wohl ein Mathematiker zu wer den, aber nicht sich allgemeine Bildung oder Naturerkenntnis zu erwerben vermag. Doch wohl weil jenes durch Abstraktion, die Prinzipien dieser letzteren aber durch Erfahrung[131] zum Verständnis gelangen. Junge Leute haben davon keine selbsterworbene Gewißheit, sondern reden nur anderen nach, während ihnen die Grundbegriffe jener mathematischen Gegenstände nicht unzugänglich sind.

Der Fehler sodann, den man in der Überlegung begeht, kann entweder in dem Allgemeinen oder in der Einzelheit liegen: so z.B. in dem Satze, daß alles Wasser was schwer von Gewicht ist, verdorben ist, oder darin daß dieses bestimmte Wasser schwer von Gewicht ist. Daß aber Einsicht keine wissenschaftliche Erkenntnis ist, ist offenbar. Denn ihren Inhalt bildet das Einzelne als die Konklusion im Schluß, wie wir gesehen haben, und was Gegenstand der Praxis ist, ist von letzterer Art. So steht es im Gegensatze zum reinen Denken. Denn das reine Denken hat zum Inhalt die obersten Prinzipien, für die es keinen Beweis gibt; praktische Einsicht aber beschäftigt sich mit dem Letzten, dem Einzelnen, was nicht mehr Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern der Wahrnehmung ist, nicht der spezifischen Wahrnehmung eines einzelnen Sinnes, sondern ähnlich derjenigen, durch welche wir gewahr werden, daß die elementarste Figur unter den Objekten der Mathematik das Dreieck ist; denn auch da ist ein letzter Abschluß gegeben. Aber hier handelt es sich noch eher um Anschauung als um praktische Einsicht; diese ist zwar auch Anschauung, aber von anderer Art.

Etwas suchen ist nicht dasselbe wie sich etwas überlegen; dieses letztere ist eine Art des Suchens. Auch vom Überlegen müssen wir ausmachen, was es seinem Wesen nach ist, ob es Wissenschaft, ob es bloße Meinungsbildung, ob es ein geschicktes Erraten ist oder unter welche Gattung es sonst fällt. Nun ist es zunächst nicht Wissenschaft, denn man sucht nicht was man schon weiß: richtige Überlegung aber ist ein sich Beraten, und wer berät, der sucht nach etwas und denkt darüber nach. Aber auch ein Erraten ist es nicht. Denn man errät ohne bewußte Gründe und im Augenblick; zum Überlegen dagegen bedarf es längerer Zeit, und so heißt es: man müsse im Ausführen dessen, was man sich überlegt hat, schnell, im Überlegen aber langsam sein. Zudem, Scharfsinn ist etwas anderes als richtige Überlegung, und Scharfsinn ist eine Art das Rechte zu treffen. Aber auch eine Meinungsbildung ist das richtige Überlegen in keinem Sinne. Sofern der schlecht Überlegende irre geht, der gut Überlegende das Rechte trifft, ist die rechte Überlegung offenbar ein Treffen des Richtigen, aber des Richtigen weder in wissenschaftlicher Erkenntnis noch in bloßer Meinung. Denn in der Wissenschaft gibt es kein Treffen des Richtigen, sowenig wie ein Verfehlen des Richtigen; Richtigkeit der Meinung aber bedeutet soviel wie Wahrheit. Zugleich[132] aber ist der Gegenstand, über den man sich eine Meinung bildet, immer bereits begrifflich bestimmt; rechte Überlegung aber findet nicht statt, ohne Erwägung von Gründen. Es bleibt also nur übrig, daß sie Richtigkeit der Reflexion bedeutet; denn diese ist als solche noch kein festgestellter Satz, während eine Meinung nicht mehr ein Suchen, sondern bereits ein solcher Satz ist. Wer sich aber etwas überlegt, gleichviel ob er schlecht oder richtig überlegt, der sucht noch erst etwas und denkt über etwas nach.

Ist aber die richtige Überlegung das Treffen des rechten Weges, so ist nun zuerst die Frage, was dieser rechte Weg und was seine Bedeutung ist. Richtigkeit hat selbst wieder mehrere Bedeutungen, und es kann sich nicht um Richtigkeit in jedem Sinne handeln. Ein willensschwacher und ein niedriggesinnter Mensch wird durch seine Reflexion das Resultat erreichen, das er zu erreichen sich vorgesetzt hat; er wird also ganz richtig überlegt und doch damit nur ein großes Übel ergriffen haben. Recht überlegt zu haben gilt aber als ein Gutes; denn eine solche Richtigkeit im Resultat der Überlegung bedeutet rechte Überlegung, und diese verhilft zu etwas Gutem. Zu solchem Resultat kann man aber auch durch einen falschen Schluß gelangen; man kann richtig treffen, was zu tun geboten ist, und doch den rechten Weg verfehlen, der zu solchem Treffen führt, indem man einen falschen Mittelbegriff verwendet. Also wird eine rechte Überlegung noch nicht dadurch bezeichnet, daß man durch sie zum richtigen Ergebnis gelangt, sofern man nicht auch auf dem rechten Wege dazu gelangt. Ferner ist es möglich das Rechte zu treffen, indem man lange Zeit, aber es ist auch möglich, indem man schnell überlegt; also ist auch darin noch kein Merkmal der richtigen Überlegung zu finden. Eine solche ist erst diejenige, die das Richtige trifft als das was frommt, und zwar dem Zwecke nach, der Art und Weise nach und der Zeit nach. Man kann ferner eine richtige Überlegung schlechthin oder zu einem bestimmten Zwecke angestellt haben. Die richtige Überlegung schlechthin ist diejenige, die zu dem schlechthin gültigen Zwecke, die andere ist diejenige, die zu einem bestimmten Sonderzwecke das Rechte trifft. Ist nun richtig überlegt zu haben das Kennzeichen derjenigen, die praktische Einsicht haben, so ist unter richtiger Überlegung die Richtigkeit in dem Sinne zu verstehen, daß das Mittel zu dem Zwecke dienlich ist, den die praktische Einsicht in richtigem Urteil erfaßt hat.

Verstand ferner und Verständigkeit, d.h. die Eigenschaften, auf Grund deren man jemanden verständig und verständnisvoll nennt, bedeutet keineswegs durchaus dasselbe wie wissenschaftliche Erkenntnis oder[133] wie eine bloße Meinung, denn dann würden alle verständig sein; aber auch nicht eine besondere Art von Spezialwissenschaft; so wie die medizinische Wissenschaft die Wissenschaft von dem Gesunden oder die Mathematik die von den Größen ist. Denn den Gegenstand, an dem der Verstand sich Bewährt, bildet weder das was ewig und unbewegt ist, noch sonst jedes Beliebige, dem ein Werden zukommt, sondern vielmehr das was Schwierigkeiten und Bedenken macht und was zu einer Überlegung Anlaß gibt. Darum kommen hier dieselben Gegenstände in Betracht, die auch der praktischen Einsicht unterstellt sind, aber doch nicht so, daß Verstand und praktische Einsicht dasselbe wäre. Denn die Einsicht übt das Amt des Gebietens; was man zu tun oder zu lassen hat, das zu bestimmen ist ihr Beruf. Der Verstand dagegen hat nur das Amt des Urteilens. So bedeutet denn Verstand und Verständigkeit, verständig und verständnisvoll dasselbe. Der Verstand besteht weder darin daß man praktische Klugheit besitzt, noch darin, daß man sie erlangt, sondern wie das Lernen ein Verstehen bedeutet, sofern dabei das reine Erkenntnisvermögen zur Anwendung gelangt, so tritt der Verstand in Wirksamkeit, wenn man sich eine Ansicht bildet, um ein Urteil zu gewinnen über das, was der praktischen Einsicht obliegt. Es gilt, wenn ein anderer redet, darüber das richtige Urteil zu fallen; denn richtiges und zutreffendes Urteil bedeutet dasselbe. Daher nun ist der Ausdruck Verstand genommen, wonach jemand als verständig bezeichnet wird, nämlich von dem Verstehen beim Lernen. Denn häufig bezeichnet man das Lernen als ein Verstehen.

Was man ferner wohlmeinende Gesinnung nennt, wonach wir von jemand sagen, er sei ein wohldenkender, ein einsichtiger Mann, das bedeutet ein richtiges Urteil in Fragen der Billigkeit. Ein Beweis dafür ist der, daß man wohlmeinend am ehesten den nennt, der billig urteilt, und billig sein heißt manche Dinge wohlmeinend mit Nachsicht beurteilen. Solche nachsichtige Beurteilung ist eine mit richtigem Urteil über das Billige verbundene Denkweise, und richtig heißt das Urteil, das das in Wahrheit Billige trifft.

Alle diese Beschaffenheiten des Intellekts nun haben, so darf man wohl sagen, dieselbe Bestimmung. Man spricht von Denkweise, Verständigkeit, Einsicht, Vernünftigkeit, indem man sie von denselben Personen aussagt, denen man Wohlmeinung und sogar Vernünftigkeit zuschreibt, die man einsichtsvoll und verständig nennt. Alle diese Vermögen haben es mit den letzten Einzelfällen des Lebens zu tun. Sofern man ein richtiges Urteil hat über die Fragen der praktischen Klugheit, ist man verständig und wohlmeinend[134] oder nachsichtig. Denn billig zu urteilen ist das gemeinsame Kennzeichen aller guten Menschen, wo es sich um das Verhältnis zu anderen handelt. Alles praktische Verhalten aber bewegt sich um die letzten Einzelfälle. Diese muß der Einsichtige denkend erkennen; Verstand und Wohlmeinung aber haben sie praktisch zu behandeln, und immer handelt es sich dabei um die Einzelfälle des Lebens als um das schlechthin Einzelne. Auch die intuitive Vernunft erfaßt das Letzte und zwar nach beiden Richtungen, als das Oberste und das Unterste. Denn die obersten Bestimmungen und die letzte Einzelheit, beides ist Gegenstand der Vernunft in unmittelbarem Ergreifen, nicht in vermitteltem Denken. Die Vernunft erfaßt, wo es sich um das Beweisverfahren handelt, die unveränderlichen obersten Begriffe, und andererseits wo es sich um das praktische Verhalten handelt, die letzte Einzelheit, das was auch anders sein kann, und den Untersatz des Schlusses; denn das sind die Prinzipien für alle Absichtsbildung. Aus dem Einzelnen wird das Allgemeine gewonnen. Dieses muß man unmittelbar wie durch Wahrnehmung ergreifen, und das leistet die Vernunft. Darum gilt es auch, daß dies Naturgabe ist. Geisteskultur hat von Natur kein Mensch, wohl aber kommt Einsicht, Wohlmeinung und Vernunft durch natürliche Entwicklung. Der Beweis ist, daß man diese Eigenschaften als mit dem Lebensalter zusammenhängend betrachtet, und dieses bestimmte Lebensalter Vernunft und Urteilskraft mit sich bringt; die Natur also ist der Grund. Darum ist die Vernunft der Anfang und das Ende; denn aus dem Obersten ergeben sich die Beweise, und um das Unterste drehen sie sich. Man muß deshalb die Aussprüche und Ansichten der Erfahrenen und Älteren oder Einsichtigen schätzen, auch wenn sie ohne Beweis sind, gerade so wie Beweise; denn weil sie ein durch Erfahrung geschärftes Auge haben, so sehen sie richtig.

Was Einsicht, was Geistesbildung ist und welches die Objekte jeder von beiden sind, haben wir so dargelegt und gesehen, daß jedes von beiden die rechte Beschaffenheit einer anderen Seite der Geistestätigkeit bedeutet.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 130-135.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Nikomachische Ethik
Die Nikomachische Ethik
Die Nikomachische Ethik: Griechisch - Deutsch
Nikomachische Ethik
Die Nikomachische Ethik (Vollständige Ausgabe)
Die Nikomachische Ethik

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Cleopatra. Trauerspiel

Cleopatra. Trauerspiel

Nach Caesars Ermordung macht Cleopatra Marcus Antonius zur ihrem Geliebten um ihre Macht im Ptolemäerreichs zu erhalten. Als der jedoch die Seeschlacht bei Actium verliert und die römischen Truppen des Octavius unaufhaltsam vordrängen verleitet sie Antonius zum Selbstmord.

212 Seiten, 10.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon