a) Die Schwierigkeiten der Frage

[141] Da drängt sich nun die Frage auf, wie jemand richtige Ansichten haben und doch der Selbstbeherrschung ermangeln kann. Bei begrifflicher Erkenntnis behaupten manche sei es unmöglich. Denn daß trotz des Besitzes[141] begrifflicher Erkenntnis etwas anderes im Menschen die Herrschaft haben und solche Erkenntnis wie einen Sklaven hinter sich herschleppen sollte, das hielt Sokrates für etwas Ungeheuerliches. Sokrates bestritt demgemäß diese Ansicht durchaus. Solchen Mangel an Willensstärke gebe es nicht; denn wenn jemand im Handeln wider das was ihm am meisten fromme verstoße, so geschehe es niemals wissentlich, sondern immer nur aus Mißverstand. Indessen eine solche Ansicht widerspricht augenscheinlich den Tatsachen, und jedenfalls bedurfte es, wenn Mißverstand der Grund sein soll, erst noch einer Untersuchung dieses Seelenzustandes, in welchem Sinne dabei von Mißverstand gesprochen wird. Denn offenbar hegt der seiner Begierden nicht Mächtige seine falsche Ansicht nicht schon vorher, ehe er sich in der leidenschaftlichen Erregung befindet.

Manche nun geben dem Sokrates wohl in der einen Beziehung recht, in der anderen nicht. Daß nichts größere Macht hat als begriffliche Erkenntnis, das geben sie zu; aber sie stimmen mit ihm darin nicht überein, daß niemand wider das handle, was ihm als das Bessere erschienen ist, und behaupten deshalb, der Genußsüchtige werde von seinen Gelüsten eben deshalb beherrscht, weil er keine begriffliche Einsicht besitze, sondern eine bloße Meinung. Ist es aber eine bloße Meinung und keine begriffliche Erkenntnis, und ist es keine gesicherte, sondern nur eine unbefestigte Meinung, die den Gelüsten sich entgegenstellt, wie bei solchen, die noch im Zweifel hin und her schwanken, so ist da, wo jemand starken Begierden gegenüber seiner Denkweise nicht treu bleibt, ein nachsichtiges Urteil wohl am Platze. Grundsätzliche Unsittlichkeit dagegen hat keinen Anspruch auf Nachsicht, ebenso wenig wie jede andere Art von Verwerflichkeit. Das wäre also etwa dann der Fall, wenn sie trotz des Widerstrebens der praktischen Einsicht geübt würde; hat diese doch die stärkste Kraft. Indessen das wäre ungereimt. Denn das hieße, daß ein und derselbe Mensch zugleich einsichtig und den Lüsten ergeben wäre; kein Mensch aber wird behaupten, daß es die Art eines einsichtigen Menschen sei, willentlich die niedrigsten Handlungen zu begehen. Außerdem haben wir oben gezeigt, daß der Einsichtige sich auch im Handeln bewähre, denn auf das schlechthin Einzelne geht seine Einsicht, und daß er auch die anderen sittlichen Vorzüge besitzt.

Ferner, wenn es ein Merkmal der Selbstbeherrschung ist, starke Begierden, und zwar solche von niederer Art zu empfinden, so ergibt sich, daß der über die Begierden Erhabene nicht der sich Beherrschende, und der sich Beherrschende nicht der über die Begierden Erhabene sein kann. Denn das[142] Kennzeichen eines Mannes von solcher Fassung ist eben das, daß er weder heftig begehrt noch Niederes begehrt; und doch ist solches Begehren die Bedingung dafür, daß von Selbstbeherrschung überhaupt die Rede sein kann. Denn sind die Begierden von edler Art, so ist diejenige Gesinnung, die es verhindert, daß man ihnen nachgibt, gerade nichts wert, und mithin wäre die Herrschaft über die Begierden keineswegs immer etwas Rühmliches. Sind sie aber schwach, ohne von niedriger Art zu sein, so wäre daran nichts, was einem Respekt einzuflößen vermöchte. Und sind sie zwar von niedriger Art, aber zugleich schwach, so wäre wieder ihnen zu widerstehen nichts Besonderes.

Aber weiter, wenn Festigkeit des Willens bewirkt, daß man jedesmal bei seiner Meinung beharrt, so ist sie in dem Falle bedenklich, wo einer auch auf einer falschen Meinung beharrt. Wenn aber Willensschwäche bewirkt, daß man von jeder Ansicht auch wieder abweicht, so wird es eine Willensschwäche geben, die zum Ruhme gereicht, wie es bei Neoptolemos in Sophokles' »Philoktet« der Fall ist. Denn daß er bei dem, wozu ihn Odysseus überredet hat nicht verharrt, weil es ihm leid wird, die Unwahrheit zu sagen, das verdient doch nur unseren Beifall.

Eine weitere Schwierigkeit bietet ein Trugschluß, der uns bei den Sophisten begegnet. Diese nämlich gefallen sich darin, Schlüsse von einer solchen Art zu bilden, mit der sie die Menschen verblüffen, um sich, wenn sie ihr Ziel erreichen, als besonders gewandt zu erweisen; und so wird der Schluß wie sie ihn bilden zu einem Fangschluß. Denn der Verstand fühlt sich wie in Banden, wenn er einerseits bei dem Schlußsatz nicht stehen bleiben will, weil dieser ihn nicht befriedigt, aber auch nicht von ihm loszukommen imstande ist, weil er dem Beweisgang sich nicht zu entziehen vermag. Aus einem ihrer Beweisgänge also ergibt sich der Satz, daß Gedankenlosigkeit in Verbindung mit Willenlosigkeit eine Tugend ist. Es tut einer auf Grund seines Mangels an Selbstbeherrschung das Gegenteil von dem was er für recht hält; was er für recht hält aber ist dies, daß das Gute schlecht und zu unterlassen sei, und infolgedessen tut er nun das Gute und nicht das Böse.

Ferner könnte man meinen, ein Mensch, der aus Überzeugung tut und anstrebt was Lust bereitet, und danach seine Vorsätze einrichtet, sei mehr wert als einer, der nicht auf Grund seiner Denkungsart, sondern seiner Genußsucht so verfährt; denn er ist einer Heilung eher zugänglich, weil es möglich bleibt, daß man ihm eine andere Überzeugung beibringe. Dagegen ist ein Mensch der bloß seinen Begierden nachlebt, ein Belag für das Sprichwort:[143] Wenn das Wasser würgt, was soll man nachtrinken? Wäre er von der Richtigkeit seiner Handlungsweise überzeugt, so würde er sie, eines Besseren überzeugt, aufgeben: so aber bleibt sein Handeln, auch wenn man ihn überzeugt, deshalb nicht weniger im Widerspruch zu seiner Überzeugung.

Außerdem: wenn Knechtschaft unter den Begierden und Herrschaft über die Begierden auf allen Gebieten vorkommt, wer ist der Knecht der Begierde schlechthin? Kommen doch bei keinem Menschen alle Arten von Ausschweifung zugleich vor, und dennoch nennen wir manche Leute ausschweifend ohne weiteres.

Das etwa sind die Schwierigkeiten die sich ergeben. Da muß man das eine aus dem Wege räumen, das andere stehen lassen, denn die Schwierigkeit heben heißt das Positive finden.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 141-144.
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