b) Leidenschaft und Lust

[152] Daß ferner der Mangel an Selbstbeherrschung da weniger verwerflich ist, wo es sich um leidenschaftliche Aufwallung, als wo es sich um sinnliche Lüste handelt, das wollen wir jetzt zeigen. Man darf sagen: leidenschaftliche Aufwallung vernimmt wohl die Stimme der Vernunft, vernimmt sie aber nicht recht, gleichwie ein voreiliger Diener, der, bevor er noch den Auftrag recht vernommen hat, forteilt und dann den Auftrag falsch ausführt, oder gleichwie ein Hund, der anschlägt, sobald er ein Geräusch hört, bevor er noch zusieht, ob es auch nicht ein Freund ist. So stürmt die leidenschaftliche Aufwallung, von natürlicher Hitze und Raschheit getrieben, zur Vergeltung, nachdem sie zwar gehört hat, aber nicht das Befohlene gehört hat. Verstand oder subjektiver Eindruck hat einem kundgetan, daß ihm eine Verletzung oder Beleidigung widerfahren ist; er aber zieht nun gleichsam den Schluß, daß man dergleichen entgegentreten muß, und sogleich schreitet er zur Abwehr. Das Gelüsten andererseits stürmt fort zum Genuß, sobald nur Überlegung oder Empfindung lehrt, daß der Gegenstand Lust verheißt. Leidenschaftliche Aufwallung also folgt irgendwie der Überlegung, das Gelüsten nicht: darum ist dieses verwerflicher. Wer den Zorn nicht bemeistern kann, wird irgendwie von Überlegung beherrscht, der andere von seinem Begehren und nicht von seiner Überlegung.

Zweitens ist es eher verzeihlich, wenn einer den natürlichen Regungen nachgibt, oder auch wenn einer von solchen Begierden getrieben wird, die allen Menschen gemeinsam und sofern sie gemeinsam sind. Nun liegt Heftigkeit und Unwille mehr in der menschlichen Natur als die Lüste, die sich auf ein Übermaß und auf das richten was nicht zur Notdurft gehört. So sagte jener Mensch, um sich zu entschuldigen, daß er seinen Vater schlage: Er hat seinen Vater auch geschlagen und dieser den seinigen; und auf seinen kleinen Sohn weisend: Dieser wird wieder mich schlagen, wenn er ein Mann geworden ist; das ist einmal so in unserem Hause. Ein anderer mahnte seinen Sohn, als dieser ihn fortschleifte, er solle ihn nicht weiter als bis zur Tür schleifen; denn er selber habe seinen Vater auch nur so weit geschleift.[152]

Drittens wächst die Größe des Unrechts mit dem Grade der Hinterhältigkeit. Wen nun leidenschaftliche Aufwallung treibt, der verfährt nicht hinterhältig, und ebenso wenig sucht sich die Aufwallung zu verstecken, sondern geht offen vor; wohl aber gebraucht die Begierde List. Darum heißt Aphrodite: »die ränkesüchtige Tochter Cyperns«, und an ihrem gestickten Gürtel besingt Homer: »Liebesgeflüster, das auch des Verständigsten Sinne betörte«. Wenn also der Mangel an Selbstbeherrschung gegenüber der Begierde als Unrecht schwerer ins Gewicht fällt und verwerflicher ist als der gleiche Mangel gegenüber der Aufwallung, so bedeutet sie den Mangel an Herrschaft über sich schlechthin und ist im eigentlichen Sinne Unsittlichkeit.

Viertens: von niemand der eine Kränkung erfahren hat, gilt es, daß er den anderen mutwillig verletze. Wer im Zorn handelt, tut es immer auf Grund einer erfahrenen Kränkung, dagegen wer mutwillig verletzt, auf den Antrieb böser Lust. Wenn nun dasjenige das größere Unrecht ist, worüber Unwillen zu empfinden am meisten gerechtfertigt ist, so ist auch der Mangel an Selbstbeherrschung gegenüber der Begierde das größere Unrecht. Denn im Zorn liegt kein Antrieb zu mutwilliger Verletzung.

Was wir damit erwiesen haben ist dies, daß der Mangel an Selbstbeherrschung, wenn er sich den Lüsten gegenüber zeigt, schimpflicher ist, als wenn er der Heftigkeit gegenüber hervortritt, und daß Selbstbeherrschung und das Fehlen derselben sich gerade gegenüber den Begierden und den sinnlichen Lustempfindungen betätigt. Es gilt nunmehr, die Unterschiede innerhalb der letzteren aufzuzeigen.

Wie wir gleich im Anfang dargelegt haben, sind sie ihrer Art und Größe nach teils menschlich und natürlich, teils tierisch brutal, teils Folge von Entartung oder Erkrankung. Was die ersten anbetrifft, so zeigt sich allein ihnen gegenüber eine über die Lüste erhabene Gesinnung und die zügellose Hingebung an dieselben. Darum schreibt man auch den Tieren weder die eine noch die andere Eigenschaft oder doch nur in übertragenem Sinne zu; so wenn eine Art von Tieren im allgemeinen sich vor den anderen durch Wildheit, Üppigkeit und Gefräßigkeit hervortut. Denn Tiere bilden keine Vorsätze und stellen keine Überlegungen an; sie geraten nur aus dem regelmäßigen Geleise wie dem Wahnsinn verfallene Menschen. Tierische Roheit ist ein geringerer Grad von Bosheit als ein böser Wille, aber allerdings noch mehr zu fürchten. Es ist doch bei tierischer Roheit das Edelste nicht entartet, wie bei einem Menschen, sondern es ist gar nicht vorhanden. Ein Vergleich zwischen tierischer Roheit und bösem Willen ist ganz[153] ähnlich, wie wenn man einen Vergleichanstellen wollte zwischen einem lebendigen und einem leblosen Wesen, um zu sehen, welches von beiden das schlimmere ist. Denn jedesmal ist die Verderbnis desjenigen Wesens minder unheilvoll, das nicht nach einer Maxime handelt; Maxime aber ist die Vernunft. Nahe verwandt damit ist es auch, wenn man einen Vergleich zieht zwischen der Ungerechtigkeit und einem ungerechten Menschen. Jedes von beiden kann in seiner Weise das Schlimmere sein. Ein schlechter Mensch vermag zehntausendmal mehr Böses zu tun als ein Tier.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 152-154.
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