d) Böser Wille und schwacher Wille

[156] Wir haben oben gesehen, daß ein zügelloser Mensch Reue zu empfinden nicht geeignet ist; denn er beharrt bei seinem Grundsatz. Dagegen ist der von seinen Begierden fortgerissene immer der Reue zugänglich. Daher verhält es sich nicht wirklich so, wie wir oben bei der Erwägung der Schwierigkeiten angedeutet haben; sondern der eine kann sich bessern, der andere nicht. Die Verderbtheit des Willens macht den Eindruck einer Krankheit wie Wassersucht oder Schwindsucht, der Mangel an Selbstbeherrschung den von Krämpfen. Jene ist ein chronisches, dieser ein akutes Übel. Mangel an Selbstbeherrschung und böser Wille sind zwei völlig verschiedene Gattungen. Von seiner Bosheit hat man kein Bewußtsein, aber wohl von seinem Mangel an Selbstbeherrschung. Von diesen letzteren, den Leuten ohne Selbstbeherrschung, stehen diejenigen die ganz außer sich geraten höher als diejenigen die erst überlegen und doch nicht ihrer Überlegung gemäß handeln; denn die Erregung der sie unterliegen ist von geringerer Stärke, und sie erliegen nicht wie die anderen ohne zur Überlegung gekommen zu sein. Der Mensch ohne Selbstbeherrschung ist ganz ähnlich solchen die schnell trunken werden, schon von einem geringen Maß Wein und von einem geringeren als die meisten anderen. Augenscheinlich also, daß Mangel an Selbstbeherrschung nicht böser Wille ist; aber allerdings, irgendwie ist er doch mit ihm verwandt. Der eine handelt wider sein grundsätzliches Vornehmen, der andere seinem Grundsatz gemäß; und doch, im[156] wirklichen Handeln kommt beides auf das gleiche hinaus. Man wird an den Ausspruch des Demodokos über die Bewohner von Milet erinnert: »Die Einwohner von Milet sind nicht unverständig; aber was sie tun sieht gerade so aus, wie das, was die Unverständigen tun.« Menschen, die sich nicht zu beherrschen wissen, sind nicht von Gesinnung ungerecht, aber ihre Handlungen sind ungerecht. Der eine ist von der Art, daß er den übermäßigen, den der rechten Vernunft widersprechenden sinnlichen Lüsten nicht aus Grundsatz nachjagt; der andere tut es aus Grundsatz, weil es in seiner Art liegt diesen Lüsten nachzujagen. Jenen kann man eines Besseren belehren, diesen nicht. Denn sittliche Gesinnung hält das Prinzip aufrecht, unsittliche Gesinnung stürzt es um; im Handeln aber bildet der Zweck das Prinzip, wie in der Mathematik die Voraussetzungen. Daher gibt es so wenig dort wie hier eine theoretische Begründung für die Prinzipien; sondern innere Tüchtigkeit, entstamme sie nun dem natürlichen Temperament oder der Gewöhnung, hat zur Folge, daß man über die Prinzipien richtig denkt. Wer von Charakter so beschaffen ist, der ist über niedere Begierden erhaben; den Gegensatz zu ihm bildet der grundsätzlich seinen Lüsten Nachlebende. Es kommt vor, daß einer infolge leidenschaftlicher Erregung von der richtigen Einsicht abzufallen geneigt ist; ihn überwältigt die leidenschaftliche Erregung so weit, daß sein Handeln der rechten Einsicht widerspricht, aber doch nicht so weit, daß es bei ihm zur Charaktereigenschaft würde und er sich zum Grundsatz machte, solchen Lüsten rücksichtslos nachzujagen. Diesem geschieht es wohl, daß er sich vergißt; aber er steht immerhin höher als der grundsätzlich Zügellose, und er ist nicht ohne weiteres ein Mensch von schlechtem Charakter. Denn bei alledem bleibt das Wertvollste, das Prinzip, gewahrt. Im Gegensatze zu ihm steht der andere, der an dem Prinzip festhält und sich auch durch die leidenschaftliche Erregung nicht darin erschüttern läßt. Man ersieht daraus, daß die letztere Gesinnung die sittliche, die andere demgegenüber die niedere ist.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 156-157.
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