2. Die Gefühle und die Tätigkeit

[164] Von der Unlust ist es jedenfalls allgemein anerkannt, daß sie ein Übel und daß sie zu meiden ist. Sie ist teils ein Übel schlechthin, oder sie bedeutet für irgend jemand irgendwie ein Hindernis. Was nun dem was man meiden soll, sofern es zu meiden und sofern es ein Übel ist, entgegengesetzt ist, das ist ein Gutes; also muß Lustempfindung notwendig etwas Gutes sein. Was Speusipp als Erwiderung vorbringt, daß wie das Größere zugleich dem Kleineren und dem Gleichen, so die Lust beiden, der Unlust und der Freiheit von Unlust gegenüberstehe, das trifft nicht die Sache. Denn er selber wird nicht behaupten wollen, daß das Lustgefühl eigentlich ein Übel sei.

Nichts hindert aber auch die Annahme, daß das höchste Gut selbst eine Art von Lustgefühl sei, wenn es gleich manche Lustgefühle von niederer Art gibt ebenso wie auch eine Art von wissenschaftlicher Erkenntnis das höchste Gut sein könnte, wenn manche Erkenntnisse von schlimmer Art wären. Vielmehr ergibt sich geradezu mit Notwendigkeit, daß, wenn es doch für jede Art von geistigen Tätigkeitsrichtungen Betätigungen ohne Hemmung gibt, mag nun die Betätigung aller insgesamt oder die einer einzelnen von ihnen die Glückseligkeit ausmachen, diese Betätigung, falls sie frei von Hemmung ist, das Begehrenswerteste ist. Das Gefühl solcher ungehemmten Tätigkeit aber ist das Lustgefühl. Damit wäre denn also eine Art des Lustgefühls das höchste Gut, ungeachtet die meisten Arten der Lust etwas Niedriges, und wenn man will etwas schlechthin Niedriges sind.

Darum ist es allgemeine Überzeugung, daß das glückselige Leben ein Zustand der Freude sei, und darum bringt man den Zustand der Freude in engste Verbindung mit der Glückseligkeit, und das mit gutem Grunde. Denn keine Tätigkeit ist vollkommen, wenn sie gehemmt ist; die Glückseligkeit aber trägt den Charakter des Vollkommenen. Darum bedarf der Glückselige auch der leiblichen wie der äußeren Güter und des äußeren Glückszustandes, um in diesen Beziehungen nicht gehemmt zu sein. Wer aber behauptet, ein Mensch auf der Folter oder inmitten schwerer Schicksalsschläge sei glückselig, wenn er nur ein tüchtiger Mensch sei, redet mit Willen oder wider Willen sinnloses Zeug.

Weil nun die Glückseligkeit auch der äußeren Glückslage bedarf, so halten manche Äußere Glückslage mit der Glückseligkeit für dasselbe. Das ist[164] sie nun doch nicht. Ist sie übermäßig groß, so kann sie geradezu ein Hindernis bilden, und vielleicht ist es dann auch nicht mehr gerechtfertigt sie ein Glück zu nennen; denn nur in seiner Bedeutung für die Glückseligkeit liegt das entscheidende Merkmal des Glücks.

Wenn ferner alles, Tier und Mensch, die Lust begehrt, so ist das eine Art von Beweis, daß die Lust in gewissem Sinne das Beste ist:

Nicht wird völlig zunichte das Wort, das im Munde der vielen Massen lebt....

Da aber nicht für alle dieselbe Naturbeschaffenheit noch dieselbe geistige Haltung die beste ist oder allen als die beste erscheint, so begehren zwar nicht alle dieselbe Lust, aber Lustbegehren alle. Vielleicht suchen sie nicht die Lust, die sie zu suchen meinen, noch die, die sie zu suchen bekennen würden, und doch suchen sie alle dieselbe Lust. Denn alle Wesen haben von Natur etwas Göttliches. Wenn die sinnlichen Lustempfindungen den Namen der Lust als ihr besonderes Eigentum bekommen haben, so ist der Grund der, daß die Menschen so häufig ihnen zusteuern und alle an ihnen teilhaben. Weil sie mithin die einzigen sind, die die Menschen kennen, halten sie sie für die einzigen, die existieren.

Offenbar folgt aber auch das, daß wenn Lustgefühl und Tätigkeit kein Gut ist, das Leben der Glückseligen nicht ein Zustand der Freude sein könnte. Denn wozu bedürfte er ihrer, wenn sie doch kein Gut ist, und es möglich ist, daß er geradezu im Zustand des Schmerzes lebte? Gilt es von der Freude, daß sie weder ein Übel noch ein Gut ist, so gilt es auch vom Schmerz. Warum sollte er ihn also meiden? Es wäre mithin das Leben des Edelgesinnten gegenüber dem des Niedriggesinnten auch nicht das an Freuden reichere, wenn nicht auch seine Tätigkeiten die beglückenderen wären.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 164-165.
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