a) Allgemein

[181] Wie wir gleich im Anfang bemerkt haben, darf man annehmen, daß es dasselbe Gebiet und dieselben Personen sind, die für das Freundschafts- wie für das Rechtsverhältnis in Betracht kommen. Überall wo Gemeinschaft ist, gibt es auch ein Rechtsverhältnis und ein Verhältnis der Befreundung. Man spricht als von seinen Freunden von den Genossen auf einer Seereise[181] und von den Kriegskameraden, und ebenso in anderen Fällen der Gemeinschaft. Soweit wie die Gemeinschaft reicht, so weit reicht auch die Befreundung und so weit auch das Rechtsverhältnis. So hat denn auch das Sprichwort recht: Freundesgut, gemeinsames Gut; denn in der Gemeinschaft besteht die Freundschaft. Brüdern und Kameraden ist alles, den andern sind nur bestimmte Dinge gemeinsam, hier mehr, dort weniger, wie auch die Freundschaftsverhältnisse hier enger, dort lockerer sind. Der gleiche Unterschied zeigt sich auch in den Rechtsverhältnissen. Es ist nicht dasselbe Recht im Verhältnis von Eltern zu Kindern wie in dem von Brüdern untereinander oder zwischen Kameraden oder zwischen Mitbürgern, und ebenso verschieden geht es in den anderen Verbänden zu. Demgemäß bedeutet denn auch das Unrecht in jedem dieser Verhältnisse etwas anderes; es wird um so größer, je enger das Band mit denen ist, gegen die es sich wendet. So ist es schlimmer, einen Kameraden seines Vermögens zu berauben, als einen sonstigen Mitbürger, schlimmer, dem eigenen Bruder Hilfe zu versagen, als einem Fremden, den eigenen Vater zu mißhandeln, als einen beliebigen anderen Menschen. Andererseits entspricht es der Natur der Sache, daß gleichmäßig mit der Enge der Verbindung auch das Rechtsverhältnis an Stärke zunimmt; handelt es sich doch um dieselben Personen und erstreckt es sich doch über dasselbe Gebiet.

Sämtliche Gemeinschaftsverhältnisse sind als Bestandteile der Staatsgemeinschaft dieser untergeordnet. Sie haben zum Inhalt die Gemeinschaft der Arbeit für einen nützlichen Zweck und der Fürsorge für eines der Lebensbedürfnisse. Ruch die Staatsgemeinschaft selber ist doch wohl bestimmt durch die Rücksicht auf das Nützliche in ihrer Entstehung, wie in ihrem Fortbestände. Das ergibt das Ziel, das die Gesetzgebung im Auge hat; gerecht heißt das, was das gemeine Wohl fördert. Die anderen Arten der Gemeinschaft haben statt dessen einzelne besondere Nützlichkeiten zum Zweck, so die Genossen einer Seefahrt das was für die zum Gelderwerb oder zu einem sonstigen Zweck unternommene Reise nötig ist, Kriegskameraden das was dem Kriegszweck dient, sei es, daß die Absicht auf Geld, auf Sieg oder auf Eroberung gerichtet ist. Das gleiche ist der Fall bei Bezirks- und Gaugenossen, Alle diese fallen unter die Staatsgemeinschaft: denn diese hat nicht bloß den Nutzen des Augenblicks, sondern den für das ganze Leben zum Ziel.

Es gibt aber auch solche Gemeinschaften, als deren Zweck man die Belustigung bezeichnen darf, Opfer- und Schmausgesellschaften, wo es auf Opferfeste[182] und Geselligkeit hinausläuft. Man begeht eine Opferfeier und hält Zusammenkünfte zu diesem Zweck; man erweist den Göttern eine Ehrung und verschafft damit zugleich sich eine erfreuliche Erholung. Diese uralten Opferfeiern und Zusammenkünfte werden tatsächlich nach dem Einbringen der Früchte als Erstlinge veranstaltet; in solchen Zeiten hatte man eben am meisten Muße. Die Gemeinschaften sämtlich erweisen sich also als Glieder der Staatsgemeinschaft; der besonderen Art dieser Gemeinschaften aber wird auch die Art der inneren Verbundenheit in den Gemütern entsprechen.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 181-183.
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