c) In der Familie

[186] Alles Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Menschen beruht also wie wir gesehen haben auf der Gemeinschaft der Lebensverhältnisse. Dabei darf man die auf Verwandtschaft und Kameradschaft beruhende Gemeinschaft als besondere Arten abscheiden. Die Gemeinsamkeit des Staates, des Bezirks der Reise und was dergleichen mehr ist, trägt mehr das Gepräge äußerer Vereinigung; denn sie stellen sich dar als gleichsam auf Übereinkunft beruhend. In diese Klasse kann man auch das Verhältnis der Gastfreundschaft einreihen. Die Verbindung die die Verwandtschaft stiftet, bietet einen Reichtum von Formen, aber sie wurzeln alle in der Gemeinsamkeit des Erzeugers. Die Eltern lieben ihre Kinder als ein Stück von sich selbst, und die Kinder die Eltern als die, denen sie ihr Dasein verdanken. Die Eltern aber haben das bestimmtere Wissen um das was von ihnen stammt, während ihre Sprößlinge kaum ein Wissen um ihre Herkunft von ihnen haben, und das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem Erzeugten ist bei dem Erzeuger lebhafter als bei dem Erzeugten das der Zugehörigkeit zum Erzeuger. Denn was von einem herkommt, das bleibt dem eigen, von dem es sein Dasein hat; selbst Zähne und Haare und dergleichen bleiben ein Stück ihres Eigentümers; für den Sprößling dagegen hat das wovon er stammt keine oder doch nur geringe Bedeutung. Endlich wirkt darauf auch die Länge der Zeit. Die Eltern haben das Kind lieb gleich wenn es zur Welt gekommen ist, die Kinder die Eltern erst wenn die Zeit fortschreitet und sie zu Verstand und Einsicht kommen. Dadurch erklärt es sich auch, weshalb die Mutterliebe die stärkere ist. Die Eltern lieben die Kinder wie sich selbst; / denn was von ihnen abstammt ist wie ein zweites Exemplar von ihnen, das sich von ihnen abgelöst hat, / die Kinder ihre Eltern als durch diese in die Welt gesetzt Die Geschwister aber haben einander lieb um der Gemeinsamkeit der Eltern[186] willen, von denen sie stammen. Die Identität des Verhältnisses zu jenen bewirkt die Identität des Wesens zwischen ihnen selbst. Daher sagt man, sie seien eines Blutes, eines Stammes und wie man es sonst bezeichnet. So sind sie getrennte Personen und doch von Wesen dasselbe.

Allerdings ist für die geschwisterliche Zuneigung auch das von Bedeutung, daß sie zusammen aufwachsen und gleichaltrig sind. »Gleiches Alter, gleiche Neigung«, heißt es, und Gewohnheit des Zusammenlebens macht den Kameraden. Daher ist auch das geschwisterliche Verhältnis dem kameradschaftlichen verwandt. Vettern und sonstige Verwandte gehören zum engsten Kreise der nächst Verbundenen aus eben diesem Grunde, wegen der Abstammung von denselben Personen; und das Band ist enger oder lockerer, je nachdem der gemeinsame Stammvater näher oder weiter zurückliegt.

Die Liebe der Kinder zu den Eltern ist wie die der Menschen zu den Göttern eine Hingebung an das Erhabene und Überlegene, an das, wovon man die größten Wohltaten empfangen hat, an diejenigen, denen man Dasein und Nahrung verdankt, und die nachher auch noch für die Erziehung gesorgt haben. Dieses Verhältnis der Zusammengehörigkeit enthält auch des Erfreuenden und des Vorteilhaften mehr als das zu Fremden, in dem Maße, als die Lebensgemeinschaft eine engere ist.

In dem Verhältnis zwischen Geschwistern findet sich auch das wieder, was das kameradschaftliche Verhältnis bietet; es findet sich, wo sie brav und überhaupt einander ähnlich sind, in um so höherem Grade, je mehr sie zusammengehören und von Geburt an sich gegenseitig lieb haben, und je mehr solche, die dieselben Eltern haben, die miteinander aufgewachsen sind und die gleiche Erziehung genossen haben, auch von Gemüt einander gleichen. Dazu kommt dann auch die Erprobung in der Länge der Zeit, die hier die stärkste und zuverlässigste ist. Auch in den übrigen Verwandtschaftsverhältnissen richtet sich die Wärme der Zuneigung nach der Nähe des Verwandtschaftsgrades.

Zwischen Mann und Frau waltet die Liebe von Natur. Denn der Mensch ist durch seine Natur noch mehr auf das eheliche Leben, als auf das Leben im Staate angewiesen, ebenso wie die Familie ursprünglicher und unentbehrlicher ist als der Staat, und wie die Fortpflanzung allem Lebendigen gemeinsamer zukommt. Bei den anderen Wesen reicht die Gemeinsamkeit nur so weit; bei den Menschen aber hat die eheliche Gemeinschaft nicht bloß die Fortpflanzung, sondern alle Zwecke des menschlichen Lebens zum Inhalt. Denn die Aufgaben sind von vornherein geteilt, und dem Manne liegt anderes[187] ob, als der Frau. So helfen sie sich gegenseitig aus und stellen jeder seine eigentümlichen Gaben in den Dienst der Gemeinschaft. Darum gewährt dieses Verhältnis der Gattenliebe so reichen Gewinn und so großes Glück; dazu mögen denn auch die persönlichen Vorzüge beitragen, falls beide Gatten tüchtige Persönlichkeiten sind. Denn jeder Teil hat seine eigenen Vorzüge, und eben dies kann für sie eine Quelle des Glücks werden.

Ein Band zwischen den Gatten bilden weiter die Kinder, deshalb werden kinderlose Ehen leichter geschieden. Die Kinder sind für beide Gatten ein gemeinsamer köstlicher Besitz, und das Gemeinsame hält vereinigt. Die Frage aber, wie Mann und Frau und überhaupt solche, die sich lieb haben, miteinander leben sollen, bedeutet offenbar nichts anderes als die Frage, was in solchen Verhältnissen das Gerechte ist. Denn das Gerechte ist nicht dasselbe in dem Verhältnis zwischen Freunden, wie in dem zum Fremden, zum Kameraden oder zum Mitschüler.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 186-188.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Nikomachische Ethik
Die Nikomachische Ethik
Die Nikomachische Ethik: Griechisch - Deutsch
Nikomachische Ethik
Die Nikomachische Ethik (Vollständige Ausgabe)
Die Nikomachische Ethik