e) Austausch ohne Entgelt

[192] In allen Verbindungen, in denen es sich um den Austausch von Leistungen handelt, die der Art nach verschieden sind, ist es, wie wir dargelegt haben, die Proportion, die die Gleichheit herstellt und die Verbindung in Bestand erhält. So bekommt in der wirtschaftlichen Gemeinschaft der Schuhmacher für das Schuhzeug, das er liefert, einen entsprechenden Gegenwert, ebenso der Weber und alle anderen Produzenten auch. Dafür nun ist als das allgemeine Wertmaß das Geld eingeführt worden; auf dieses wird alles zurückgeführt, und an ihm wird alles gemessen.

Bei Liebschaften liegt es anders. Da kommt es vor, daß der Liebhaber sich beklagt, er erlange für seine überschwänglichen Liebesbeweise keine Erwiderung; dergleichen geschieht, wenn er nichts Liebenswertes an sich hat, was ja wohl bisweilen zutreffen mag. Zu anderen Malen beklagt sich[192] wieder der geliebte Gegenstand, daß ihm von dem, was ihm dereinst verheißen worden, jetzt nichts erfüllt werde. Das ist das Ergebnis in dem Falle, wo der eine dem geliebten Gegenstande seine Liebe zuwendet um sinnlicher Befriedigung willen, und dieser dem Liebhaber um des Vorteils willen, und nun beide um ihr Ziel kommen. Hat ein Liebesverhältnis solche Begründung, so tritt die Auflösung ein, wenn die Parteien das nicht erlangen, was sie zu der Verbindung veranlaßt hat. Ihr Interesse war ja gar nicht auf die Person gerichtet, sondern auf das, was ihr anhaftete, und da dies letztere nicht dauert, so dauert eben deshalb auch das Liebesverhältnis nicht. Dagegen eine Liebe, die der Person als solcher mit ihrer inneren Beschaffenheit gilt, diese erweist sich, wie wir dargelegt haben, als dauerhaft.

Die Parteien gehen aber auch dann auseinander, wenn das was sie erlangen ein anderes ist als das was sie begehren. Hier ist es geradeso, als ob sie nichts erlangten; denn eben das Ziel wonach sie streben bleibt ihnen versagt. So erging es einst einem Virtuosen, dem versprochen worden war, je besser er spiele, desto höher würde seine Belohnung sein. Als er nun am folgenden Tage um Erfüllung des Versprechens ersuchte, erhielt er zur Antwort: für das Vergnügen das er bereitet, habe er ja sein Vergnügen bereits erlangt [durch die ihm eröffnete angenehme Aussicht]. Wenn nun die Absicht beider Teile eben darauf gerichtet war, dann wäre es so ganz in der Ordnung gewesen. War aber das was der eine Teil wollte die Bezahlung, was der andere Teil wollte der musikalische Genuß, und bekommt dann der eine was er begehrt, der andere nicht, dann wäre der Ausgang, der das geschäftliche Verhältnis beendigte, nicht der gebührende gewesen.

Was einer eben bedarf, das sucht er sich zu verschaffen, und zu diesem Zweck gibt er hin was er hat. Wessen Sache ist es nun, den Preis abzuschätzen, dessen der hingegeben, oder dessen der in Empfang genommen hat? Wer hingegeben hat, von dem nimmt man an, daß er die Preisbestimmung dem andern überlasse; so sagt man habe es in der Tat Protagoras gemacht. Wenn dieser jemand in irgendeinem Fach unterrichtet hatte, so hieß er den Schüler abschätzen, wieviel ihm das Gelernte wert erscheine, und soviel ließ er sich dann bezahlen. Manchem anderen sagt in solchen Verhältnissen mehr das Wort zu: »Wie der Mann, so der Lohn.«

Wer Geld angenommen hat und dann, weil er mehr versprochen hat als wozu seine Kräfte reichen, nicht leistet was er zu leisten verheißen hat, über den beklagt man sich mit Recht; denn er erfüllt nicht, worüber man doch übereingekommen war. Die Sophisten sind im Grunde gezwungen so zu[193] verfahren, weil für das was sie wirklich können kein Mensch einen Heller geben würde. Solche Leute also, die das nicht leisten, wofür sie die Bezahlung schon empfangen haben, sind mit Recht Gegenstand der Beschwerde. In Fällen dagegen wo eine Vereinbarung über den zu leistenden Dienst nicht getroffen worden ist, da haben wir schon gesagt daß diejenigen, die aus freundlicher Gesinnung für den anderen solche Leistung vollbringen, einem Vorwurf nicht ausgesetzt sind; denn was sie tun stammt aus der auf sittlicher Gesinnung beruhenden Hingebung. Da muß man denn auch die Gegenleistung nach dem bemessen, was in der Absicht des andern lag, denn Hingebung und sittliche Gesinnung stellt sich in dem dar, was einer beabsichtigt. Das darf man nun auch als das für das Verhältnis von Lehrer und Schüler auf idealem Gebiete Gültige bezeichnen; denn hier läßt sich der Wert der Leistung überhaupt nicht in Geld abschätzen, und auch durch Ehrenerweisung könnte der empfangene Wert nicht aufgewogen werden. Da also muß man sich, wie es im Verhältnis zu den Göttern und zu den Eltern der Fall ist, an dem genügen lassen, was einer zu leisten imstande ist.

Ist dagegen die Leistung nicht so gemeint, hat der Leistende vielmehr von vornherein eine Gegenleistung im Auge, so muß die Gegenleistung in erster Linie eigentlich so beschaffen sein, daß sie beiden Teilen dem Wert der Leistung zu entsprechen scheint, und wenn darüber eine Einheit des Sinnes zwischen ihnen nicht besteht, so würde es nicht bloß als das Notwendige, sondern auch als das Gerechte erscheinen, daß derjenige entscheidet, der die Leistung empfangen hat. Denn wenn der Leistende so viel wieder empfängt als jenem an Nutzen zuteil geworden ist oder als jener für die genossene Befriedigung aufgewandt haben würde, so empfängt er den Ersatz, der ihm von diesem gebührt.

So geht es ja offenbar auch bei Kauf und Verkauf zu. An manchen Orten gibt es gesetzliche Bestimmungen des Inhalts, daß bei freiwillig eingegangenen geschäftlichen Verbindungen der Rechtsweg ausgeschlossen bleiben soll, weil man der Meinung ist, daß die Abwickelung des Geschäfts dem gegenüber, mit dem man auf Treu und Glauben das Geschäft eingegangen ist, in demselben Sinne stattzufinden hat, in dem man es eingegangen ist. Man hält es für gerechter, daß derjenige den Wert bestimme, dem die Leistung zugute gekommen ist, als daß derjenige es tue, der sie für ihn vollbracht hat. Denn meistenteils ist der Wert eines Gegenstandes nicht der gleiche in den Augen desjenigen der ihn besitzt wie in den Augen desjenigen, der ihn zu erwerben wünscht. Jedermann ist geneigt, dem was ihm gehört[194] und was er hingibt, einen hohen Wert zuzuschreiben; der Austausch aber vollzieht sich gleichwohl nach demjenigen Werte, den der Empfänger dem Gegenstande beilegt. Allerdings aber muß man den Wert nicht danach bestimmen, wie er dem Empfänger erscheint wenn er den Gegenstand schon hat, sondern danach wie er ihn anschlug, bevor er ihn bekommen hatte.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 192-195.
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