a) Das Maß der Verpflichtung

[195] Eine Schwierigkeit bietet ferner die Antwort auf Fragen wie die: Ist man verpflichtet seinem Vater in allem zu Willen zu sein und ihm überall Gehorsam zu leisten? wenn man krank ist, soll man sich nicht vielmehr dem Arzt anvertrauen, und wo es gilt einen Offizier zu wählendem Kriegserfahrenen seine Stimme geben? Oder die andere Frage: hat man seine Dienste eher dem Freunde oder hat man sie dem verdienten Manne zu leisten ? welche Pflicht steht höher, dem Wohltäter zu vergelten oder dem Kollegen ein Opfer zu bringen, falls man nicht beides zugleich zu leisten vermag? In allen dergleichen Fragen ganz bestimmte Entscheidungen zu fällen, ist das nicht recht schwer? Denn die einzelnen Fälle bieten eine Unmenge von Eigentümlichkeiten der verschiedensten Art, was Wichtigkeit oder Geringfügigkeit des Gegenstandes, was die sittliche Bedeutung und was die äußere Notlage anbetrifft. Soviel indessen steht außer Zweifel, daß man nicht einem alles zugestehen darf, daß in der Regel die Pflicht empfangene Wohltaten zu vergelten der Willfährigkeit gegen befreundete Genossen vorgeht, wie man ja auch an erster Stelle Geld das man geborgt hat dem Darleiher zurückzuerstatten verpflichtet ist, bevor man dem Genossen einen Vorschuß leistet. Indessen immer ist eigentlich auch nicht einmal ein solcher Satz gültig. Man nehme folgenden Fall. Es ist einer aus Räuberhänden durch ein Lösegeld befreit worden. Was ist nun seine nächste Pflicht, seinen Befreier wer er auch immer sei, wieder zu befreien, oder ihm, wo Gefangenschaft nicht vorliegt, auf seine Forderung das Lösegeld zurückzuerstatten, oder den eigenen Vater aus der Gefangenschaft zu befreien? Da möchte man eher meinen, die Pflicht gegen den Vater gehe der Pflicht, die aus dem eigenen Erlebnis stammt, voran.

Wie gesagt also, im allgemeinen muß man bezahlen was man schuldig ist; ist dagegen das was irgend jemandem sonst zu leisten ist der sittlichen Bedeutung nach oder des Zwanges der Lage wegen von überragendem[195] Werte, so muß man sich nach dieser Seite hin entscheiden, ja, es kann vorkommen, daß es nicht einmal recht ist, empfangene Wohltaten zu vergelten. z.B. es kennt jemand einen anderen als einen Mann von ehrenhaftem Charakter und erweist ihm einen Dienst; dieser aber soll jenem nun das gleiche erweisen. Wirklich? auch dann wenn er von ihm die Überzeugung gewonnen hat, daß er ein Mensch von ganz unwürdiger Gesinnung ist? Und so soll man auch nicht einmal immer dem wieder borgen, von dem man geborgt hat; denn es kann sein, daß der eine einem ehrenhaften Manne ein Darlehen gegeben hat in der Überzeugung, daß er es wiederbekommen wird, der andere aber keine Aussicht hat von dem charakterlosen Menschen jemals etwas zurückzuerhalten. Verhält es sich nun so in Wirklichkeit, so ist der Anspruch nicht auf beiden Seiten der gleiche; verhält es sich aber in Wirklichkeit nicht so, und hat man nur die Meinung es verhalte sich so, so dürfte es immer noch nicht heißen, es sei wider das gesunde Gefühl gesündigt worden. Wie wir wiederholt dargelegt haben; Ausführungen, bei denen es sich um menschliche Gefühle und Handlungsweisen handelt, lassen nur das gleiche bescheidene Maß von Bestimmtheit zu, das auch diesen Gegenständen selber zukommt.

Das also ist unzweifelhaft, daß man nicht allen dasselbe, und auch seinem Vater nicht alles zu leisten hat, wie man ja auch dem höchsten Gotte selber nicht alles opfert, und da die Pflicht den Eltern gegenüber eine andere ist als den Geschwistern, den Kollegen und den Wohltätern gegenüber, so ist die Aufgabe die, jeder Klasse das gerade ihr Gebührende und Angemessene zu erweisen. Und offenbar richtet man sich ja auch tatsächlich nach diesem Grundsatz. Zur Hochzeit lädt man seine Verwandten; denn diese sind von der gemeinsamen Abstammung und haben das gemeinsame Interesse an dem, was damit zusammenhängt. Aus demselben Grunde hält man dafür, daß auch bei Leichenbegängnissen die Verwandten zunächst zu erscheinen verpflichtet sind. Den Eltern Unterhalt zu gewähren, wird man für die nächste Pflicht halten, weil man dereinst denselben von ihnen empfangen hat, und weil ihn denen zu gewähren, denen wir das Dasein verdanken, höhere sittliche Bedeutung hat als in diesem Sinne für uns selber zu sorgen. Auch Ehre sind wir den Eltern gleichwie den Göttern schuldig, doch nicht unbedingt, nicht dieselbe dem Vater wie der Mutter, nicht die, die dem Manne von höchster geistiger Auszeichnung oder die dem Heerführer gebührt, sondern gerade die, die dem Vater und ebenso die der Mutter zukommt. So ist man auch jedem Manne in höherem Alter die Ehre schuldig, die seinen[196] Jahren entspricht, indem man vor ihm aufsteht, ihm den Ehrenplatz einräumt und was dergleichen mehr ist. Kollegen wiederum und Geschwistern gegenüber gebührt Offenheit und Gemeinsamkeit in allen Stücken; Verwandten, Bezirksgenossen, Mitbürgern und allen anderen gegenüber gilt es immer den Versuch, jedem das Gebührende zu erweisen und das was jedem zukommt nach der Nähe der Beziehung, nach dem persönlichen Verdienst und nach dem Werte, den sie für uns haben, zu bemessen. Solches Bemessen ist leichter bei Stammesgenossen, mißlicher bei Fernstehenden. Aber darum darf man davon doch nicht abstehen, sondern muß eine Entscheidung treffen, so gut es geht.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 195-197.
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