c) Selbstliebe und Nächstenliebe

[198] Man darf die Betätigungsweisen, in denen sich liebevolle Gesinnung darstellt, und dasjenige was ihren Begriff bezeichnet, als abgeleitet ansehen[198] aus dem Verhältnis, in dem wir zu uns selber stehen. Unter einem uns liebevoll zugetanen Menschen versteht man doch einen solchen, der uns um unsertwillen alles, was gut ist oder was ihm so erscheint, zudenkt und ins Werk setzt, oder einen solchen, der für den, dem er in Liebe zugetan ist, rein um dessen selbst willen den Wunsch hegt, daß er dasei und lebe. So empfinden Mütter für ihre Kinder, so auch Freunde für einander, und das selbst dann, wenn sie durch einen Zwist völlig auseinander geraten sind. Einen Freund nennt man ferner den, der unser Leben teilt, der dieselben Dinge wie wir wert hält, der mit uns Leid und Freude gemein hat. Auch das ist in der Mutterliebe am meisten der Fall. Durch einen dieser Züge also charakterisiert man die Liebe, jedes dieser Merkmale gilt nun aber für einen Menschen von sittlicher Haltung im Verhältnis zu sich selbst, und für die übrigen gilt es gleichfalls, sofern sie solche Menschen zusein beanspruchen. Wie wir dargelegt haben, darf aber die sittliche Gesinnung und der sittlich tüchtige Mann als Maßstab dienen für jede besondere Lebensäußerung. Ein solcher Mann also lebt in Frieden mit sich selbst, und alle Betätigungsformen seiner Innerlichkeit zeigen ein und dasselbe Bestreben. Er nimmt für sich selbst alles Gute und das, was ihm als das Gute erscheint, zum Ziel und setzt es auch ins Werk; denn daran erkennt man den guten Menschen, daß er alle seine Kraft an das Gute wendet. Er tut es um seinetwillen, im Dienste der in ihm lebenden Vernunft, die man als das eigentliche Selbst eines jeden betrachten muß. Er wünscht zu leben und wohlbehalten zu sein, und er wünscht es am meisten für das, was in ihm das denkende Teil ist. Denn für den Mann von sittlichem Charakter ist das Dasein ein Gut, und das Gute wünscht jeder für sich selbst; niemand dagegen wünscht, ein anderer zu werden, so daß dann das, zu dem er geworden wäre, alles Gute hätte. Denn auch Gott hat schon so alles Gute, aber deshalb hat er es, weil er ist, was er ist. Jeder aber, darf man sagen, ist [wie Gott] das, was in ihm denkende Vernunft ist, oder doch dies mehr als alles andere. So will denn auch ein solcher Mann sein Leben im Umgange mit sich selbst führen, denn darin findet er volle Befriedigung. Die Erinnerung an seine Vergangenheit ist ihm erfreulich; was er von der Zukunft erwartet, ist nur Gutes, und solches Hoffen ist Grund zur Freude. Er ist mit Gegenständen seiner Betrachtung in der Innerlichkeit seines denkenden Geistes reichlich ausgestattet. Was an Freud und Leid sein Inneres bewegt, das empfindet er als denkendes Selbst aufs stärkste mit; denn allen Seiten seines Wesens ist eines und dasselbe schmerzlich oder erfreulich, und nicht der einen dieses, der anderen jenes. Reue, darf[199] man sagen, kennt er nicht. Indem nun bei einem Menschen von sittlicher Haltung alle diese Züge für das Verhältnis zu der eigenen Person gelten und er sich zu dem den er liebt verhält wie zu sich selbst, / ist doch der Freund sein anderes Selbst, / so darf man sagen: die Liebe zu anderen trägt eben diese Züge, und in Liebe verbunden sind die, bei denen sich diese Züge wiederfinden.

Die Frage nun, ob es ein Freundschaftsverhältnis zu der eigenen Person gibt, mag fürs erste auf sich beruhen. Doch darf man nach den obigen Ausführungen annehmen, daß ein solches Freundschaftsverhältnis insofern vorhanden ist, als man an einem Menschen zwei oder mehrere Seiten seines Innern unterscheidet, und daß die Freundschaft mit anderen in ihrem höchsten Sinne dem Verhältnis ähnlich ist, in welchem man so zu sich selbst steht. Nun zeigt sich allerdings, daß die bezeichneten Züge auch bei der großen Masse vorkommen, die doch von niedriger Art ist. Haben diese Menschen nun dadurch einen Anteil daran, daß sie selbstgerecht sich treffliche Menschen zu sein schmeicheln? Bei Menschen von völlig gemeiner und verworfener Art findet sich nichts davon, auch nicht der bloße Schein; aber auch bei Menschen von gewöhnlicher Art findet es sich kaum. Sie liegen mit sich selbst im Streit; ihre Begierde ist auf das eine, ihr Wille auf das andere gerichtet, gerade wie es bei denen der Fall ist, die sich nicht zu beherrschen wissen, die statt dessen was ihnen selbst als das Gute erscheint, das begehren, was ihr Gelüsten reizt, während es ihnen doch schädlich ist; andere wieder unterlassen aus Feigheit und Willenlosigkeit eben das ins Werk zu setzen, wovon sie doch überzeugt sind daß es für sie das Heilsamste wäre. Manche, die eine Menge von schändlichen Taten vollbracht und sich durch ihre Verworfenheit verhaßt gemacht haben, werden des Lebens überdrüssig und legen Hand an sich selbst.

Verworfene Menschen sehen sich nach anderen um, um mit ihnen zu leben, während sie sich selbst entfliehen möchten. Sind sie sich selbst überlassen, so überfällt sie eine Menge von quälenden Erinnerungen und von Zukunftsvorstellungen der gleichen Art; in Gesellschaft anderer suchen sie das Vergessen. Da sie selber nichts an sich haben was Zuneigung zu erwecken vermöchte, so haben sie kein Gefühl der Zuneigung für sich selbst. Solche Menschen haben auch kein Mitgefühl für das Leid und die Lust, die sie selbst empfinden. Ihr Gemüt ist in Aufruhr wider sich selbst; die eine Seite ihres innern empfindet es schmerzlich, wegen ihrer Verworfenheit gewisser Dinge entbehren zu müssen; die andere Seite hat ihre Lust daran;[200] das eine zieht sie hierhin, das andere dorthin und zerrt sie gleichsam auseinander. Ist es aber nicht möglich Unlust und Lust zugleich zu empfinden, so ärgert man sich dafür nach kurzer Frist darüber daß man vergnügt gewesen ist, und gönnt sich selber die Lust nicht, die man genossen hat. Von Verdruß über das Durchlebte stecken solche niedrigen Naturen ganz voll. Ein Mensch von niederer Gesinnung hat also offenbar deshalb kein Gefühl der Zuneigung zu sich selbst, weil er nichts an sich hat, was Zuneigung zu erwecken vermöchte. Ist dies nun ein überaus unseliger Zustand, so ist es doppelt geboten mit Anspannung aller Kräfte das Böse zu fliehen und zu versuchen die Eigenschaften zu erwerben, die dem Menschen geziemen. Dann wird es ihm gelingen, sein eigner Freund und der Freund anderer Menschen zu werden.

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 198-201.
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