Zehntes Kapitel

[11] Ich werde nun zunächst bestimmen, was ein dialektischer Satz und was ein dialektischer Streitsatz[11] ist; denn nicht jeder Satz und nicht jeder Streitsatz kann für einen dialektischen gelten, da kein Verständiger einen Satz aufstellen wird, der Niemandem glaubwürdig erscheint, oder einen Streitsatz hinstellen wird, welcher Allen oder den Meisten unzweifelhaft ist. Bei letzterem gäbe es keine Bedenken und einen allgemein für unglaubwürdig gehaltenen Satz wird Niemand zum Beweis benutzen. Vielmehr ist der dialektische Satz ein in Form einer Frage ausgesprochener Satz, welcher Allen oder den Meisten oder von den weisen Männern allen oder den meisten, oder den erfahrensten glaubwürdig erscheint und welcher nicht gegen die allgemeine Meinung verstösst; denn man kann wohl auch Sätze hier aufstellen, welche die weisen Männer billigen, sofern sie nur nicht der Meinung der Menge entgegenlaufen. Zu den dialektischen Sätzen gehören auch die, welche den glaubwürdigen ähnlich sind; ferner die, welche das Gegentheil von glaubwürdigen Sätzen verneinen; ferner die, welche den über die erfundenen Künste herrschenden Meinungen entsprechen. Denn wenn es glaubwürdig ist, dass die Gegentheile zu einer Wissenschaft gehören, so wird es auch glaubwürdig sein, dass Gegentheile von demselben Sinnesorgan wahrgenommen werden, und wenn es glaubwürdig ist, dass, wenn es der Zahl nach nur eine Sprachlehre giebt, so muss es auch glaubwürdig sein, dass es nur eine Flötenkunst giebt, und wenn es mehrere Sprachlehren geben sollte, wird es auch mehrere Flötenkünste geben; da dies alles einander ähnlich und verwandt erscheint. Ebenso wird die Verneinung der Gegentheile von glaubwürdigen Sätzen als glaubwürdig gelten; denn wenn der Satz, dass man seinen Freunden Gutes erweisen solle, glaubwürdig ist, so ist es auch der Satz, dass man seinen Freunden kein Böses zufügen soll; denn das Gegentheil jenes Satzes ist, dass man seinen Freunden Böses zufügen solle, und die Verneinung dieses Gegentheils ist, dass man es nicht thun solle. Ebenso ist es, wenn man seinen Freunden Gutes erweisen soll, auch glaubwürdig, dass man seinen Feinden es nicht erweisen solle; denn auch dieser Satz ist eine Verneinung des Gegentheils, da das Gegentheil lautet, dass man seinen Feinden Gutes erweisen solle. Gleiches gilt für andere solche Fälle. Auch das Gegentheil vom Gegentheil wird vergleichsweise[12] als glaubwürdig er scheinen; wenn man z.B. den Freunden Gutes erweisen soll, so wird man auch den Feinden Böses zufügen sollen; denn als Gegentheil von dem »den Freunden Gutes erweisen«, dürfte das »den Feinden Böses zufügen« gelten. Ob sich dies aber in Wahrheit so verhält, oder nicht, werde ich in der Lehre über die Gegentheile darlegen. Endlich ist klar, dass so weit über Künste eine allgemeine Meinung besteht, auch solche Meinung sich zu dialektischen Sätzen eignet. Deshalb wird man solche Sätze, welche von den in diesen Wissenschaften Erfahrenen gebilligt werden, als glaubwürdige aufstellen können, z.B. aus der Arzneilehre das, was der Arzt billigt und aus der Geometrie das, was der Geometer billigt. Das Gleiche gilt für die anderen Wissenschaften.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 11-13.
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