Achtzehntes Kapitel

[24] Die Ermittelung der Zweideutigkeit der Worte hilft sehr für die Klarheit (denn man wird bestimmter wissen, was man behauptet, wenn man die Zweideutigkeit der Worte kennt), und für eine solche Aufstellung der Schlüsse, dass sie die Sache und nicht blos den Namen betreffen. Denn wenn die Zweideutigkeit der gebrauchten Worte nicht gekannt wird, so kann es kommen, dass der Antwortende und der Fragende nicht dieselbe Sache im Sinne haben; ist aber die Zweideutigkeit klargelegt und steht fest, in welchem Sinne ein Satz gemeint ist, so würde der Fragende sich lächerlich machen, wenn er nicht nach diesem Sinne seine Gründe aufstellte. Die Kenntniss der Doppelsinnigkeit der Worte schützt auch davor, dass man nicht durch Fehlschlüsse getäuscht wird und sie kann ebenso benutzt werden, um Andere durch Fehlschlüsse zu täuschen. Denn wenn man weiss, in wie vielfachem Sinne[24] ein Wort gebraucht wird, so wird man nicht durch Fehlschlüsse sich täuschen lassen, sondern es bemerken, wenn der Fragende seine Ausführung nicht auf denselben Sinn des betreffenden Wortes beschränkt. Wenn man aber selbst fragt, so kann man den Gegner durch einen Fehlschluss täuschen, im Fall er nicht etwa ebenfalls die Zweideutigkeit des Wortes kennen sollte. Dies Mittel ist indess nicht bei allen Gegenständen ausführbar, sondern nur da, wo der eine Sinn des zweideutigen Wortes einen wahren Satz ergiebt, der andere aber einen falschen. Indess gehört diese Art zu verfahren nicht zur eigentlichen Disputirkunst; deshalb haben die an einer Erörterung Theil nehmenden Personen sich durchaus davor in Acht zu nehmen, dass sie ihre Erörterungen blos um Worte führen; man müsste denn nicht anders als in dieser Weise über den aufgestellten Satz disputiren können.

Die Auffindung der Unterschiede nützt für die Schlüsse auf die Dieselbigkeit und auf den Unterschied der Dinge und dient zur Erkenntniss dessen, was ein jedes ist. Dass diese Auffindung für die Schlüsse auf die Dieselbigkeit und auf den Unterschied nützlich ist, erhellt daraus, dass wenn man irgend welchen Unterschied zwischen den zur Erörterung stehenden Gegenständen gefunden hat, man bewiesen haben wird, dass sie nicht dieselben sind. Ebenso ist sie zur Erkenntniss des Was des Gegenstandes nützlich, weil man den eigenthümlichen Begriff des Wesens eines Gegenstandes mittelst der eigenthümlichen Unterschiede desselben auszusondern pflegt.

Die Ermittelung des Aehnlichen nützt dagegen zur Bildung induktiver Begründungen und der auf Voraussetzungen gebauten Schlüsse; desgleichen zur Aufstellung von Definitionen. Zu induktiven Begründungen nützt sie deshalb, weil man dabei verlangt, dass das Allgemeine durch Herbeiführung des einander ähnlichen Einzelnen dargelegt werde und es ohne Kenntniss der Aehnlichkeit der Dinge nicht leicht ist, eine solche Induktion zu machen. Zu den auf eine Voraussetzung gebauten Schlüssen nützt sie, weil es wahrscheinlich ist, dass, wie eines von ähnlichen Dingen sich verhält, so auch die übrigen sich verhalten werden. Wenn man daher über das Eine die Mittel zur Erörterung in genügendem Maasse in Bereitschaft hat, so muss man vorher sich mit dem Gegner[25] darüber einigen, dass, so wie es sich etwa bei diesem verhalten werde, es sich auch ebenso bei dem vorliegenden Gegenstande verhalten müsse. Hat man dann jenes Eine bewiesen, so hat man auch mittelst einer Voraussetzung das Vorliegende bewiesen; denn dadurch, dass man vorausgesetzt hat, so wie es etwa bei jenem Gegenstande sich verhalten werde, so werde es sich auch bei dem vorliegenden Falle verhalten, hat man den Beweis geführt.

Endlich ist jene Aufsuchung der Aehnlichkeiten zur Aufstellung der Definitionen nützlich, weil man damit übersehen kann, was in mehreren Einzelnen sich gleich ist und man so nicht zweifeln wird, in welche Gattung man bei der Definition den vorliegenden Gegenstand zu stellen habe; denn von diesen gemeinsamen Bestimmungen wird die, welche am meisten von dem Was des Gegenstandes ausgesagt wird, die Gattung sein. Auch bei Definitionen von Gegenständen, die sehr weit voneinander abstehen, ist die Kenntniss der Aehnlichkeiten von Nutzen; so z.B. die Kenntniss, dass die Stille im Meere und die Stille in der Luft dasselbe sind (denn jedes ist eine Ruhe); ebenso die Kenntniss, dass der Punkt in der Linie und die Eins in der Zahl enthalten sind; denn beide bilden den Anfang. Wenn man so das Allen Gemeinsame als Gattung aufgestellt hat, so wird der Gegner nicht meinen, dass man falsch definirt habe. Auch pflegen beinahe Alle, welche Definitionen aufstellen, so zu verfahren; denn sie erklären die Eins für den Anfang der Zahlen und den Punkt für den Anfang der Linien, woraus erhellt, dass sie das beiden Gemeinsame als deren Gattung aufstellen.

Dies sind also die Hülfsmittel, durch welche die Schlüsse gebildet werden; dagegen enthält das Folgende die Gesichtspunkte, für welche diese Hülfsmittel benutzt werden können.[26]

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 24-27.
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