Zweites Kapitel

[3] Ich habe nun wohl zunächst anzugeben, für was und für wie vieles die Dialektik nützlich ist. Sie ist es für dreierlei; für die Uebung des Verstandes, für die mündliche Unterhaltung und für die zur Philosophie gehörigen Wissenschaften. Dass sie zur Verstandesübung nützlich ist, ergiebt sich aus ihr selbst; denn wenn man das hier gelehrte Verfahren inne hat, so wird man leichter einen aufgestellten Satz erörtern können. Für die mündliche Unterhaltung nützt sie, weil man dadurch die Meinungen der Menge kennen lernt und deshalb nicht mittelst fremdartiger, sondern mittelst der diesen Leuten bekannten Sätze mit ihnen verhandeln wird und weil man das, was sie nicht richtig auszudrücken scheinen, dadurch richtig stellen wird. Endlich gehört diese Beschäftigung für die zur Philosophie gehörenden Wissenschaften, weil man wenn man die Bedenken über einen Gegenstand nach den entgegengesetzten Richtungen darlegen kann, man um so leichter das Wahre und das Falsche in jeder Wissenschaft erkennen wird. Auch für die obersten Grundsätze, welche für alle Wissenschaften gelten, hat sie ihren Nutzen; denn aus den, einer bestimmten Wissenschaft eigenthümlich angehörigen Grundsätzen kann man über jene nichts entwickeln, weil jene die obersten Grundsätze für alle Wissenschaften sind; man muss sie deshalb nach dem, in dem einzelnen Falle Glaubwürdigen besprechen und erläutern, und dies ist die ausschliessliche und eigenthümlichste Aufgabe der Dialektik. Indem sie überhaupt forschender Natur ist, geleitet sie auch zu den obersten, allen Wissenschaften gemeinsamen Grundsätzen.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 3.
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