Drittes Kapitel

[57] Wenn ferner von zwei Dingen derselben Art das eine die ihm eigenthümliche Güte hat, so ist es wünschenswerther, als das, welches sie nicht hat; und wenn beide sie haben, das, welches sie in höherem Grade hat.

Wenn ferner das eine, das, welchem es einwohnt, gut macht, und das andere dies nicht thut, so ist jenes wünschenswerther; wie auch das Warme mehr wärmt, als das Nicht-Warme. Und wenn beide wirksam sind, so ist das wirksamere vorzuziehen; oder das, welches den bessern und hauptsächlicheren Gegenstand gut macht, wie z.B. das, welches die Seele gut macht, gegen das, welches den Körper gut macht.

Ferner gilt dieser Vorzug der bessern Sache auch von den danach beinamig bezeichneten Dingen und von dem Gebrauch derselben, sowie von den darauf bezüglichen Handlungen und Worten, und soweit diese vorzüglicher sind, ist es auch die Sache; denn diese Sätze gelten auch umgekehrt; ist z.B. das Gerecht-handeln vorzüglicher als das Tapfer-handeln, so ist auch die Gerechtigkeit vorzüglicher, als die Tapferkeit, und ist die Gerechtigkeit vorzüglicher, als die Tapferkeit, so geht auch das Gerecht-handeln dem Tapfer-handeln vor. So ziemlich dasselbe gilt auch in andern Fällen.

Wenn ferner für denselben Gegenstand das eine ein grösseres Gut ist, als das andere, so ist jenes vorzüglicher, und ebenso das, was für einen bedeutenderen Gegenstand gut ist, als das, was für einen geringeren gut ist. Auch wenn zwei Güter für denselben Gegenstand beide wünschenswerther sind, als ein drittes, so ist von jenen beiden das wünschenswerther, was in Bezug auf das dritte wünschenswerther ist, als das andere. Wenn ferner das Uebermass bei einem Gegenstande vorzüglicher ist, als das Uebermass bei einem andern, so ist auch der Gegenstand dort vorzüglicher, als hier; z.B. die Freundschaft gegen das Vermögen; denn das Uebermass in der Freundschaft ist wünschenswerther, als das im Vermögensbesitz. Ebenso[57] wenn man lieber selbst Etwas sich verschaffen mag, als dass es ein Anderer uns verschafft; deshalb sind Freunde mehr werth, als Geld.

Auch aus der Hinzufügung ist das Vorzüglichere abzuleiten, wenn die Hinzufügung des einen das Ganze vorzüglicher macht, als der Zusatz des andern. Man darf dies jedoch nicht auf die Fälle ausdehnen, wo der Gegenstand das eine Hinzugefügte mit benutzt, oder dasselbe ihm sonst behülflich ist, aber das andere, wenn es hinzugefügt wird, nicht zu benutzen ist und nichts hilft, wie z.B. die Säge und die Sichel in Verbindung mit der Zimmermannskunst; für diese Kunst ist die Verbindung mit der Säge wünschenswerther als die Verbindung mit der Sichel; allein deshalb ist die Säge nicht überhaupt wünschenswerther als die Sichel. Ebenso ist es, wenn ein Zusatz zu dem geringeren Gegenstande ihn zu dem bessern macht. Dasselbe, wie für die Hinzufügung, gilt auch für die Hinwegnahme. Wenn das von einem Gegenstande Hinweggenommene ihn geringer macht, als die Hinwegnahme eines Andern, so ist jenes Weggenommene das Grössere, da es den Ueberrest zu dem Kleinern macht.

Vorzüglicher ist ferner das, was an sich wünschenswerth ist gegen das, was es nur der Meinung nach ist; z.B. die Gesundheit gegen die Schönheit. Eine solche Meinung für einen Gegenstand ist daran kenntlich, dass man sich um den Gegenstand nicht mehr bemüht, wenn es Niemand bemerkt. Vorzüglicher sind ferner die Dinge, die sowohl an sich, als der Meinung wegen wünschenswerth sind, gegenüber denen, die es blos in einer dieser Rücksichten sind. Ebenso ist das vorzüglicher und besser, was mehr um sein selbst willen geachtet wird. An sich achtungswerther ist nämlich das, was man auch, wenn sonst nichts weiter vorhanden wäre, doch um sein selbst willen wählen würde.

Auch muss man die mehrfachen Bedeutungen und Beziehungen unterscheiden, weshalb etwas als wünschenswerth gilt; so kann es um des Nutzens, oder um des Sittlichen oder um des Angenehmen willen geschehen. Das, was in allen diesen Beziehungen oder in mehreren derselben wünschenswerth ist, ist es mehr als das, wo dies nicht in dem Masse der Fall ist. Wenn aber dieselbe entscheidende Beschaffenheit für mehrere Dinge gilt,[58] so muss man sehen, in welchem sie mehr enthalten ist, und ob es das angenehmere, oder das sittlichere, oder das nützlichere ist. Auch wegen des Besseren hat man etwas vorzuziehen, so z.B. geht das der Tugend wegen Wünschenswerthe dem vor, was man der Lust wegen wünscht. Ebenso bestimmt sich das, was man vermeiden muss; dasjenige, was dem Wünschenswerthen hinderlicher ist, ist mehr zu vermeiden; so die Krankheit mehr als die Hässlichkeit; denn die Krankheit hindert mehr am Angenehmen und Sittlichen.

Auch wenn dargelegt worden, dass etwas gleich sehr zu fliehen, wie zu begehren ist, so ist ein solches weniger wünschenswerth, als das, was blos zu begehren ist.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 57-59.
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