Drittes Kapitel

[73] Auch muss man prüfen, ob der in die Gattung gestellte Gegenstand etwas enthalte, was ein Gegentheil dieser Gattung ist, oder ob er wenigstens eines solchen fähig ist; denn dann würde Ein- und Dasselbe gleichzeitig Entgegengesetztes an sich haben, da die Gattung niemals den ihr zugehörenden Gegenstand verlässt und also dann an dem Entgegengesetzten Theil hätte oder doch haben könnte. Ferner muss man prüfen, ob die Art an etwas Theil nimmt, was überhaupt den unter die Gattung fallenden Gegenständen unmöglich zukommen kann. Wenn z.B. die Seele am Leben Theil hat und keine Zahl leben kann, so kann auch die Seele nicht eine Art von der Zahl sein.

Auch muss man prüfen, ob die Art mit der aufgestellten Gattung etwa nur gleichnamig ist, aber nicht den Begriff der Gattung enthält. Man hat dabei die über die zweideutigen Worte aufgestellten Gesichtspunkte zu benutzen ; denn Gattung und Art müssen in ein und derselben Bedeutung gebraucht werden.

Ferner prüfe man, ob, da jede Gattung in mehrere[73] Arten sich theilen muss, noch eine andere Art der betreffenden Gattung neben der einen angegebenen Art vorhanden ist; denn wenn dies nicht der Fall wäre, so würde die betreffende Gattung überhaupt nicht die richtige sein.

Auch muss man prüfen, ob die Gattung in bildlicher Weise ausgedrückt worden, z.B. wenn die Selbstbeherrschung als Einstimmung bezeichnet worden ist; denn jede Gattung muss im eigentlichen Sinne von ihren Arten ausgesagt werden, während die Einstimmung statt der Selbstbeherrschung nicht im eigentlichen, sondern im bildlichen Sinne hier gebraucht wird, da jede Einstimmung sich nur auf Töne bezieht.

Auch muss man untersuchen, ob es ein Gegentheil von der aufgestellten Art giebt. Diese Untersuchung kann mehrfach geschehen. Zunächst so, dass man untersucht, ob das Gegentheil in derselben Gattung vorkommt, weil es von der Gattung selbst kein Gegentheil giebt. Denn wenn es ein solches nicht giebt, so muss das Gegentheil in der betreffenden Gattung selbst vorkommen. Hat aber die Gattung ein Gegentheil, so muss man untersuchen, ob das Gegentheil der Art in dem Gegentheil der Gattung enthalten ist; denn dies muss der Fall sein, wenn es ein Gegentheil von der Gattung giebt. Dies alles lässt sich durch Beispiele klar machen. Ferner untersuche man, ob das Gegentheil von der aufgestellten Art überhaupt in keiner Gattung enthalten ist, also selbst eine Gattung ist, wie z.B. das Gute; denn wenn dieses in keiner Gattung enthalten ist, so wird auch dessen Gegentheil in keiner Gattung enthalten sein, sondern es ist dann selbst eine Gattung, wie dies bei dem Guten und Schlechten der Fall ist, da keines von diesen beiden in einer Gattung enthalten, sondern jedes selbst eine Gattung ist. Auch muss man darauf achten, ob, wenn die Gattung und die Art ein Gegentheil haben, zwischen der einen und ihrem Gegentheil ein Mittleres sich befindet, und ob bei der anderen und ihrem Gegentheil nicht. Denn wenn es zwischen den Gattungen ein Mittleres giebt, so giebt es ein solches auch zwischen den Arten, und umgekehrt giebt es zwischen den Gattungen ein Mittleres, wenn ein solches zwischen den Arten vorhanden ist, wie z.B. zwischen der Tugend und der Schlechtigkeit, also auch[74] zwischen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit; denn zwischen beiden befindet sich ein Mittleres. Man könnte einwerfen, dass es zwischen Krankheit und Gesundheit kein Mittleres gebe, obgleich es doch zwischen dem Schlechten und Guten ein Mittleres gebe. Allein es ist wohl auch hier zwischen beiden ein Mittleres sowohl bei den Arten wie bei den Gattungen, nur nicht in gleicher Weise, sondern bei dem einen in der Form der Verneinung und bei dem anderen in der Weise eines Unterliegenden; denn es ist zu vermuthen, dass beide ein Mittleres haben; wie auch bei der Tugend und der Schlechtigkeit und bei der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ein solches besteht, was bei beiden durch die Verneinung der Gegentheile bezeichnet wird. Wenn ferner es kein Gegentheil von der Gattung giebt, so muss man sowohl untersuchen, ob in derselben Gattung das Gegentheil sich befindet, wie ob das Mittlere sich darin befindet. Denn wenn eine Gattung zwei Aeusserste oder Gegentheil in sich befasst, so befindet sich auch ein Mittleres darin, wie z.B. es zwischen dem Weissen und Schwarzen der Fall ist; denn die Farbe ist die Gattung von beiden und auch von allen, zwischen ihnen liegenden mittleren Farben. Man kann indess hier einwerfen, dass Mangel und Uebermass zu derselben Gattung gehören (denn beide gehören zu dem Schlechten), während doch das Masshaltende, als das Mittlere von beiden, nicht zu dem Schlechten, sondern zu dem Guten gehört.

Man muss auch prüfen, ob bei einem angestellten Satze zwar die Gattung ein Gegentheil hat, aber nicht die Art. Denn hat die Gattung ein Gegentheil, so muss es auch die Art haben; wie z.B. die Tugend an der Schlechtigkeit ihr Gegentheil hat, so hat es auch die Gerechtigkeit an der Ungerechtigkeit. Auch bei Prüfung anderer Fälle wird man finden, dass bei ihnen das Gleiche gilt. Einen Einwurf ergiebt indess die Gesundheit und die Krankheit; denn die Gesundheit überhaupt ist das Gegentheil der Krankheit, aber eine einzelne bestimmte Krankheit hat kein Gegentheil, z.B. das Fieber, die Augenkrankheit und jede andere.

Bei der Widerlegung hat man nun auf diese mehrfachen Gesichtspunkte Acht zu haben; denn wenn das hier Verlangte sich in dem einzelnen Fall nicht vorfindet,[75] so ist klar, dass die Gattung nicht die wahre ist. Bei der Begründung hat man nur eine dreifache Prüfung anzustellen; erstens, ob das Gegentheil der Art in der aufgestellten Gattung enthalten ist, insofern es nämlich kein Gegentheil von der Gattung giebt. Ist hier das Gegentheil der Art in der Gattung mit enthalten, so ist klar, dass auch die aufgestellte Art in dieser Gattung enthalten ist. Ferner muss man prüfen, ob das Mittlere zwischen der Art und ihrem Gegentheil in der aufgestellten Gattung enthalten ist; denn wenn in einer Gattung das Mittlere enthalten ist, so müssen auch die beiden Aeussersten in ihr enthalten sein. Ferner muss man, wenn die Gattung ein Gegentheil hat, prüfen, ob das Gegentheil der Art auch in dem Gegentheil der Gattung enthalten ist; denn ist dies der Fall, so ist auch die aufgestellte Art in der aufgestellten Gattung enthalten.

Ferner hat man sowohl bei dem Widerlegen wie bei dem Begründen, zu prüfen, ob auch die mit einer Beugung des Stammes der Gattung und der Art bezeichneten Gegenstände und der ihnen verwandten Begriffe sich ebenso, wie die aufgestellte Art und Gattung zu einander verhalten; denn was von dem einen gilt, muss für alle diese Gegenstände gelten, sowohl bei bejahenden wie bei den verneinenden Sätzen; wenn z.B. die Gerechtigkeit ein Wissen ist, so ist auch gerecht so viel wie wissend, und der gerechte Mann ein Wissender; wenn dieses in einem Falle nicht richtig ist, so ist es auch in allen nicht richtig.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 73-76.
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