Erstes Kapitel

[91] Ob etwas, was als ein Eigenthümliches oder Nicht-Eigenthümliches aufgestellt worden ist, von dieser Art ist, ist in nachstehender Weise zu prüfen.

Das Eigenthümliche wird bald als ein solches aufgestellt, was an sich und immer es ist, oder als ein solches, was es nur in Bezug auf ein Anderes ist, oder was es nur manchmal ist. So ist dem Menschen an sich eigenthümlich, dass er ein von Natur zahmes Geschöpf ist; eine Eigenthümlichkeit in Bezug auf ein Anderes ist z.B. die zwischen der Seele und dem Leibe, dass jene das Befehlende, dieser das Gehorchende ist; eine immer bestehende Eigenthümlichkeit ist es z.B. bei der Gottheit, dass sie ein unsterbliches Wesen ist; eine zeitweise Eigenthümlichkeit ist es z.B. bei diesem Menschen, dass er in der Turnhalle spazieren geht.

Wird die Eigenthümlichkeit beziehungsweise aufgestellt, so besteht die Behauptung entweder aus zwei oder vier Sätzen. Wird nämlich dieselbe Eigenschaft bei dem einen Gegenstand als eine Eigenthümlichkeit behauptet und bei dem andern verneint, so entstehen nur zwei Sätze; z.B. wenn von dem Menschen in Bezug auf das Pferd als Eigenthümlichkeit behauptet wird, dass er zweifüssig sei; denn man könnte da den Angriff entweder dahin richten, dass der Mensch nicht zweifüssig sei, oder dass das Pferd zweifüssig sei, und auf jede dieser beiden Arten würde das Eigenthümliche widerlegt sein. Wird dagegen dem einen Gegenstand eine Eigenthümlichkeit beigelegt und bei dem andern sie bestritten, so ergeben sich vier Sätze, wie z.B. bei der Behauptung, dass das Zweifüssige eine Eigenthümlichkeit des Menschen in Bezug[91] auf das Pferd sei und dass das Vierfüssige eine Eigenthümlichkeit des Pferdes in Bezug auf den Menschen sei. Denn man kann den Angriff hier einmal dahin richten, dass der Mensch nicht zweifüssig sei, sodann dahin, dass er von Natur vierfüssig sei, und ebenso kann man versuchen, zu beweisen, weshalb das Pferd als zweifüssig und endlich, weshalb es nicht als vierfüssig anzusehen sei. Wird auf eine dieser Arten das Gegentheil dargelegt, so ist die Behauptung widerlegt.

Die Eigenthümlichkeit ist ein Ansich-seiendes Eigenthümliches, wenn sie von allen Einzelnen der betreffenden Art gilt und den Gegenstand von jedwedem andern absondert. So gilt von jedem Menschen als ein solches Eigenthümliche, dass er ein sterbliches, der Wissenschaft fähiges Geschöpf ist; dagegen ist die Eigenthümlichkeit nur eine bezügliche, wenn sie das betreffende Eigenthümliche nicht von allem andern, sondern nur von einem besonders Aufgestellten unterscheidet. So ist es eine Eigenthümlichkeit der Tugend gegenüber der Wissenschaft, dass jene im Mehreren vorkommen kann, diese aber nur in dem denkenden Theile der Seele und in den Geschöpfen, welche von Natur diesen denkenden Theil besitzen. Eine immergültige Eigenthümlichkeit ist dann vorhanden, wenn sie jederzeit von dem Gegenstand in Wahrheit ausgesagt werden kann und niemals ihn verlässt; so ist es eine solche Eigenthümlichkeit bei dem Geschöpf, dass es aus einer Seele und einem Leibe besteht. Eine zeitweilige Eigenthümlichkeit ist es, wenn sie nur für einige Zeit von dem Gegenstande in Wahrheit ausgesagt werden kann und nicht nothwendig ihm immer zukommt, wie z.B. das Spazierengehen auf dem Markte bei einem Menschen.

Die bezügliche Eigenthümlichkeit kann man entweder so aufstellen, dass sie für alle Einzelnen und alle Zeit gilt, oder so, dass sie meistentheils und bei den meisten gilt. So gehört z.B. zur ersten Art die Eigenthümlichkeit des Menschen in Bezug auf das Pferd, dass er zweifüssig ist; denn der Mensch ist immer und jedweder Mensch ist zweifüssig und kein Pferd ist jemals zweifüssig. Zu der zweiten Art gehört z.B. die dem denkenden Theile in Bezug auf die begehrlichen und eifrigen Theile der Seele zukommende Eigenthümlichkeit, dass jener Theil befiehlt[92] und diese gehorchen; denn der denkende Theil befiehlt allerdings nicht immer, sondern mitunter wird auch ihm befohlen, und ebenso wird dem begehrlichen und eifrigen Theile nicht immer befohlen, sondern manchmal befiehlt auch er, wenn die Seele des Menschen eine schlechte ist.

Von den Eigenthümlichkeiten eignen sich am meisten diejenigen zur Besprechung, welche zu dem Ansich-Eigenthümlichen gehören und immer bestehen, oder die, welche in Bezug auf Anderes bestehen. Denn bei letzteren lassen sich, wie ich bereits dargelegt habe, mehrere Streitsätze bilden, und diese bestehen nothwendig entweder aus zwei oder aus vier Sätzen, und deshalb können in Bezug auf sie mehr Gründe aufgestellt werden. Die Eigenthümlichkeiten, welche ein Ansich enthalten und immer bestehen, bieten dagegen nach vielen Gesichtspunkten Gelegenheit zum Angriff und können für vielerlei Zeiten geprüft werden, und zwar die, welche Eigenthümlichkeiten an sich sind, deshalb, weil die Eigenthümlichkeit als solche für den Gegenstand in Bezug auf jeden anderen Gegenstand gelten muss; denn unterschiede er sich dadurch nicht von allen anderen, so wäre die Eigenthümlichkeit nicht richtig aufgestellt. Ebenso kann man die immer bestehende Eigenthümlichkeit für verschiedene Zeiten prüfen, denn wenn sie jetzt nicht vorhanden ist, oder wenn sie blos früher einmal bestanden hat, oder wenn sie in der Zukunft nicht bleiben wird, so ist sie keine solche Eigenthümlichkeit. Ist aber eine Eigenthümlichkeit nur für eine bestimmte Zeit aufgestellt, so prüft man sie nur auf diese so bestimmte Zeit, und deshalb kann der Angriff sich nicht auf Vieles ausdehnen. Zur Erörterung besonders geeignet ist eine Streitfrage dann, wenn in Bezug auf sie viele und gute Gründe sich geltend machen lassen.

Was nun die bezüglichen Eigenthümlichkeiten anlangt, so hat man bei diesen nach den bei den nebensächlichen Bestimmungen erwähnten Gesichtspunkten zu untersuchen, ob die Eigenthümlichkeit dem einen zukommt und dem anderen aber nicht. Was aber die Eigenthümlichkeiten anlangt, welche an sich bestehen oder immer gelten, so ist hier die Prüfung nach folgenden Gesichtspunkten vorzunehmen.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 91-93.
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