Drittes Kapitel

[98] Bei der Widerlegung ist ferner darauf zu achten, ob der Gegenstand selbst, von dem die Eigenthümlichkeit angegeben wird, oder ein Einzelnes von ihm zu ihrer Bezeichnung benutzt wird; denn dann ist die Eigenthümlichkeit nicht gut ausgedrückt, da dieselbe der Belehrung dienen soll. Wird nämlich etwas durch sich selbst bezeichnet, so bleibt es gleich unbekannt wie vorher; auch ist das, was zu ihm gehört, erst das Spätere und deshalb nicht das Bekanntere und damit ist also von dem Gegenstande nichts mehr, als vorher, zu lernen. Wenn z.B. jemand als die Eigenthümlichkeit des Geschöpfes bezeichnet, dass eine Art desselben der Mensch sei, so benutzt er zur Bezeichnung der Eigenthümlichkeit des Geschöpfes etwas, was unter ihm enthalten ist, und die Eigenthümlichkeit ist deshalb nicht gut ausgedrückt. Deshalb darf man bei der Bezeichnung der Eigenthümlichkeit eines Gegenstandes weder diesen selbst, noch eine seiner Unterarten benutzen; erst dann wird in dieser Beziehung die Eigenthümlichkeit[98] gut aufgestellt sein. Giebt also jemand z.B. als Eigenthümlichkeit des lebenden Wesens an, dass es aus einer Seele und einem Leibe bestehe, so hat er dazu weder es selbst, noch eine seiner Arten dazu benutzt, und die Bezeichnung der Eigenthümlichkeit wird also dann in diesem Punkte gut geschehen sein.

Ebenso hat man auch bei anderen Bezeichnungen der Eigenthümlichkeit darauf zu achten, ob es den Gegenstand bekannter macht, oder nicht. Zur Widerlegung dient dies, wenn bei Bezeichnung der Eigenthümlichkeit etwas benutzt worden ist, was entweder dem Gegenstand von Natur entgegengesetzt ist, oder mit ihm, oder mit einer Unterart derselben völlig übereinstimmt; denn dann ist die Bezeichnung der Eigenthümlichkeit mangelhaft, da weder das der Natur des Gegenstandes Entgegengesetzte, noch das damit Uebereinstimmende, noch eine Unterart desselben den Gegenstand bekannter macht. Bezeichnete z.B. Jemand als Eigenthümlichkeit des Guten das, was dem Schlechten am meisten entgegengesetzt ist, so benutzte er zur Bezeichnung der Eigenthümlichkeit nur das dem Guten Entgegengesetzte, und sie wäre dann nicht gut ausgedrückt. Vielmehr muss bei Aufstellung einer Eigenthümlichkeit zur Bezeichnung derselben weder das dem Gegenstande Entgegengesetzte, noch das, was mit ihm von ganz gleicher Natur ist, noch eine blosse Unterart desselben benutzt werden; nur dann wird in dieser Beziehung die Bezeichnung gut geschehen sein. Setzt also jemand als Eigenthümlichkeit der Wissenschaft, dass sie die glaubwürdigste Annahme sei, so benutzt er dabei weder ihr Gegentheil, noch etwas der Natur nach mit ihr ganz Gleiches, noch eine Unterart derselben, und deshalb ist die Eigenthümlichkeit der Wissenschaft dann in diesem Punkte gut ausgedrückt.

Ferner dient es zur Widerlegung, wenn als Eigenthümlichkeit etwas genannt worden ist, was nicht immer mit dem Gegenstand verbunden ist, sondern manchmal auch ihm nicht eigenthümlich ist; denn auch dann ist die Eigenthümlichkeit nicht richtig. Dann wird nämlich weder bei dem Gegenstande, in dem die Eigenthümlichkeit wahrgenommen wird, der Satz nothwendig wahr sein, noch wird bei dem Gegenstande, wo sie nicht wahrgenommen[99] wird, die Verneinung nothwendig wahr sein.Ueberdem wird selbst zu der Zeit, wo die Eigenthümlichkeit angegeben worden, es nicht klar sein, ob sie besteht, da sie der Art ist, dass sie auch ausbleiben kann; deshalb ist die Eigenthümlichkeit auch keine deutliche. Hat z.B. jemand als die Eigenthümlichkeit des Thieres angegeben, dass es manchmal sich bewegt und manchmal steht, so hat er eine solche angegeben, die es auch manchmal nicht ist, und deshalb ist sie nicht gut aufgestellt. Dagegen dient es der Begründung, wenn die Eigenthümlichkeit eine solche ist, die nothwendig immer dem Gegenstande zukommt; dann wird in diesem Punkte die Eigenthümlichkeit gut aufgestellt sein. Giebt z.B. jemand als Eigenthümlichkeit der Tugend an, dass sie ihren Inhaber sittlich mache, so hat er ein der Tugend stets Zukommendes als Eigenthümlichkeit bezeichnet, und sie wird dann in dieser Beziehung gut ausgedrückt sein.

Ferner giebt es einen Grund zur Widerlegung ab, wenn jemand nur eine jetzt vorhandene Bestimmung als Eigenthümlichkeit angiebt, ohne zu sagen, dass er nur eine für jetzt geltende angeben wolle; denn dann ist die Eigenthümlichkeit nicht richtig aufgestellt, indem ja alles Ungewöhnliche vorweg bestimmt ausgedrückt werden muss, da man gewöhnt ist, nur das, was einem Gegenstande immer als Eigenthümliches zukommt, mit diesem Worte zu bezeichnen. Sodann kann man auch in einem solchen Falle nicht wissen, ob der, welcher so unbestimmt sich ausdrückt, wirklich nur das jetzt vorhandene Eigenthümliche gemeint hat. Man darf aber in dieser Weise keinen Anlass zum Tadel geben. Hätte z.B. jemand als die Eigenthümlichkeit eines Menschen angegeben, dass er sich mit einem Anderen niedergesetzt habe, so hätte er nur eine zur Zeit vorhandene Eigenthümlichkeit aufgestellt, und er hätte dann die Eigenthümlichkeit nicht richtig bezeichnet, weil er sich nicht bestimmter ausgedrückt hätte. Dagegen dient es der Begründung, wenn man bei Aufstellung einer nur jetzt vorhandenen Eigenthümlichkeit dies ausdrücklich hervorhebt; denn dann ist die Aufstellung eine richtige. Sagt man z.B.: das Eigenthümliche eines bestimmten Menschen sei das Spazierengehen, und hebt man dabei hervor, dass dies nur für die gegenwärtige Zeit gelten solle, so ist die Bezeichnung gut geschehen.[100]

Zur Widerlegung dient es ferner, wenn als Eigenthümlichkeit eine solche Bestimmung angegeben wird, deren Vorhandensein nur durch die Sinne wahrgenommen werden kann; denn die Aufstellung ist dann nicht gut geschehen, da alles Wahrnehmbare, was nicht auch wirklich in die Wahrnehmung fällt, unbekannt bleibt; es bleibt dann unerkennbar, ob die Eigenthümlichkeit noch besteht, weil sie eben nur durch Wahrnehmen erkannt werden kann. Dies gilt für solche Bestimmungen, die nicht immer mit Nothwendigkeit dem Gegenstande zukommen. Setzt z.B. jemand als Eigenthümlichkeit der Sonne, dass sie das glänzendste, über die Erde sich bewegende Gestirn sei, so bedient er sich auch Eigenthümlichkeit der Bewegung über die Erde, die nur durch den Sinn erkannt werden kann, und die Eigenthümlichkeit ist dann nicht gut aufgestellt; da, wenn die Sonne untergegangen ist, es dann unerkennbar sein wird, ob sie sich über der Erde bewegt, weil da die Wahrnehmung uns im Stich lässt. Dagegen dient es zur Begründung eines aufgestellten Satzes, wenn eine solche Eigenthümlichkeit aufgestellt worden, die nicht blos durch die Sinne erkennbar ist, oder die, wenn sie eine solche ist, wenigstens als eine nothwendige sich herausstellt; denn dann ist in dieser Beziehung die Aufstellung gut geschehen. Das ist z.B. dann der Fall, wenn man als Eigenthümlichkeit der Oberfläche angiebt, dass sie das sei, was zuerst gefärbt wird; hier benutzt man zwar etwas Sinnliches, die Farbe, aber doch ein solches, was offenbar immer besteht, und deshalb wird in dieser Beziehung diese Eigenthümlichkeit der Oberfläche gut aufgestellt sein.

Ferner giebt es einen Grund zur Widerlegung, wenn jemand den Begriff einer Sache als ihre Eigenthümlichkeit aufstellt; denn sie wäre dann nicht richtig aufgestellt, da die Eigenthümlichkeit das Was der Sache nicht angeben soll. Gäbe z.B. jemand als Eigenthümlichkeit des Menschen an, dass er ein zweifüssiges, auf dem Lande lebendes Geschöpf sei, so hätte er das Was des Menschen als die Eigenthümlichkeit desselben angegeben und wäre nicht richtig verfahren. Dagegen dient es der Begründung, wenn man als Eigenthümlichkeit etwas bezeichnet, was zwar im Satze sich mit seinem Gegenstande austauschen lässt, aber doch das Was der Sache nicht angiebt; und[101] dann würde die Eigenthümlichkeit richtig aufgestellt sein; z.B. wenn jemand als Eigenthümlichkeit des Menschen angäbe, dass er ein von Natur zahmes Geschöpf sei; dann würde diese Eigenthümlichkeit zwar im Satze sich mit dem Menschen austauschen lassen, aber sie würde doch nicht das wesentliche Was des Menschen angeben, und deshalb würde die Bezeichnung in diesem Punkte richtig sein.

Ferner giebt es einen Grund zur Widerlegung, wenn die Eigenthümlichkeit nicht von dem Was des Gegenstandes aufgestellt worden ist. Denn man muss bei der Eigenthümlichkeit, wie bei der Definition, zunächst die Gattung angeben, und dann erst das Uebrige dem anpassen und so es von Anderem absondern; ohnedem wird das Eigenthümliche nicht richtig ausgedrückt sein. Sagte also z.B. jemand, es sei die Eigenthümlichkeit des Geschöpfes, dass es eine Seele habe, so hätte er das Was des Geschöpfes nicht genannt, und deshalb wäre die Eigenthümlichkeit des Geschöpfes nicht richtig aufgestellt. Dagegen dient es der Begründung, wenn auch das Was des Gegenstandes genannt wird und dann das Uebrige hinzugefügt wird; dann ist die Eigenthümlichkeit in diesem Punkte gut aufgestellt. Z.B. wenn man als die Eigenthümlichkeit des Menschen aufstellte, dass er ein Geschöpf sei, was der Wissenschaft fähig sei; denn dann wäre das Eigenthümliche an das Was geknüpft und deshalb in diesem Punkte die Eigenthümlichkeit des Men schen gut aufgestellt.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 98-102.
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