Elftes Kapitel

[153] Wenn jemand von einem zusammengesetzten Ausdruck eine Definition aufstellt, so muss man prüfen, ob, wenn die Definition des einen Theiles des Ausdrucks abgetrennt wird, das Uebrige die Definition des übrigen Theiles des Ausdruckes ist; denn wenn dies nicht der Fall ist, so kann auch die ganze Definition nicht die richtige Definition des ganzen Gegenstandes sein. Wenn z.B. jemand eine begrenzte gerade Linie definirte als die Grenze einer begrenzten Ebene, wo die Mitte die beiden Enden verdeckt, so bildet hier die Grenze einer begrenzten Ebene die Definition der begrenzten Linie, und das Uebrige, welches lautet: wo die Mitte die beiden Enden verdeckt, muss dann die Definition des Geraden sein. Allein die unbegrenzte gerade Linie hat weder eine Mitte, noch Enden und ist doch gerade, und deshalb ist dieser übrige Theil der Definition nicht die Definition des übrigen Theiles des Ausdrucks.

Auch muss man prüfen, ob bei Definitionen von zusammengesetzten Ausdrücken die Definition etwa gleichgliedrig mit dem Definirten aufgestellt worden ist. Gleichgliedrig heisst eine Definition dann, wenn sie ebensoviel Hauptworte und Zeitworte befasst, als der zusammengesetzte Ausdruck Theile hat. Denn in solchen Fällen müssen nothwendig die Worte im Ausdruck und dessen Definition sich austauschen lassen, entweder alle oder wenigstens einige, da ja in der Definition nicht mehr als vorher in dem Ausdruck gesagt ist. Also muss man dann die Definitionen der einzelnen Worte auch für diese gebrauchen können und zwar bei allen Worten, oder doch bei den meisten. In dieser Weise könnte ja auch bei einfachen Ausdrücken, wenn man nur die Hauptworte austauscht, dies eine Definition abgeben, z.B. wenn man statt Ueberzieher Mantel setzte.

Noch grösser ist der Fehler, wenn man die bekannteren Worte mit unbekannteren vertauscht, z.B. wenn man statt: weisser Mensch, sagte: hellglänzender Sterblicher; denn dies ist keine Definition, da ein solcher Ausdruck weniger deutlich ist.

Auch muss man bei dem Austausch von Hauptworten bei solchen Definitionen prüfen, ob etwa beide nicht[154] dasselbe bedeuten, z.B. wenn jemand die theoretische Wissenschaft eine theoretische Annahme nennt. Denn Annahme ist mit Wissenschaft nicht dasselbe, was doch sein muss, wenn das Ganze dasselbe sein soll. Hier ist zwar das: theoretisch beiden Ausdrücken gemeinsam, aber das andere ist verschieden.

Auch wäre es ein Fehler, wenn man bei einer solchen Definition mittelst blossen Wechsels der Worte, diesen Wechsel nicht bei dem Art- Unterschied, sondern bei der Gattung vornähme, wie dies in dem vorigen Beispiel geschehen ist. Denn das Theoretische ist ein unbekannteres Wort, als die Wissenschaft, da letzteres die Gattung und jenes den Art-Unterschied bezeichnet und die Gattung überall das Bekanntere ist. Es hätte also nicht das Wort, was die Gattung bezeichnet, sondern das für den Art-Unterschied umgetauscht werden sollen, da dieses das weniger bekannte ist. Indess dürfte dieser Tadel wohl lächerlich erscheinen; denn es kann ja sehr wohl kommen, dass der Art-Unterschied durch ein bekannteres Wort, als die Gattung, bezeichnet wird, und wenn dies der Fall ist, so ist klar, dass der Austausch der Worte nicht bei dem Art-Unterschied, sondern bei der Gattung geschehen muss. Kann indess das Wort nicht mit einem Worte, sondern nur mit dessen Begriff vertauscht werden, so ist offenbar nöthiger, den Art-Unterschied, als die Gattung zu definiren, da die Definition um der Erkenntniss willen aufgestellt wird und dann der Art-Unterschied weniger bekannt ist, als die Gattung.

Ist nur die Definition von dem Art-Unterschied aufgestellt worden, so muss man prüfen, ob diese Definition nicht etwa noch Anderes befasst; z.B. wenn jemand die ungerade Zahl für die Zahl erklärt, welche keine Mitte habe; denn dann muss noch weiter bestimmt werden, in welcher Art sie keine Mitte habe; da die Zahl beiden Ausdrücken gemein ist und nur der Begriff des ungeraden ausgetauscht worden ist. Nun hat aber auch die Linie und der Körper eine Mitte, ohne dass sie ungerade sind und deshalb kann jener Ausdruck nicht für die Definition des Ungeraden gelten. Hat aber der Ausdruck: eine Mitte haben, mehrere Bedeutungen, so ist näher anzugeben, in welcher Art dies gemeint sei. Deshalb ist hier entweder eine fehlerhafte Definition aufgestellt, oder[155] man hat bewiesen, dass überhaupt keine Definition aufgestellt worden ist.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 153-156.
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