Fünfzehntes Kapitel

[127] In welchen Figuren aber aus entgegengesetzten Vordersätzen geschlossen werden könne, und in welchen nicht, ergiebt sich aus Folgendem:

Mit dem: »Entgegengesetzte Vordersätze« bezeichne ich dem Ausdrucke nach vier Arten; also wenn dem Allen das Keinem, oder wenn dem Allen das Nicht-Alle, oder wenn dem Einigen das Keinem, oder wenn dem Einigen das Nicht-Einigen entgegensteht. In Wahrheit sind es aber nur drei, denn das »Einige ist dem Nicht-Einigen« nur im Ausdrucke entgegengesetzt. Von diesen Gegensätzen stehen die allgemeinen sich als Gegentheile gegenüber, nämlich dem »in Allem enthalten sein«, das »in keinem Enthalten sein.« Z.B.: jede Wissenschaft ist gut und: keine Wissenschaft ist gut; die übrigen sind widersprechende Gegensätze.

In der ersten Figur giebt es nun keinen Schluss aus entgegengesetzten Vordersätzen, und zwar weder einen bejahenden noch einen verneinenden; ersteres nicht, weil beide Vordersätze dazu bejahend lauten müssen und verneinend nicht, weil diese Gegensätze nur ein und dasselbe von einem Gegenstande bejahen und verneinen, während in der ersten Figur der Mittelbegriff nicht von beiden Aussenbegriffen ausgesagt wird, sondern in dem einen Satze etwas von ihm verneint wird und in dem andern er selbst von etwas bejaht wird, solche Aussagen sind aber keine Gegensätze.

In der zweiten Figur kann aus widersprechenden und aus gegentheiligen Gegensätzen ein Schluss gebildet werden. So sei A das Gute, B und C die Wissenschaft. Setzt man nun, dass jede Wissenschaft gut sei und dass keine gut sei, so ist A in allen B und in keinem C enthalten, also B in keinem C, folglich ist keine Wissenschaft eine Wissenschaft. Ebenso verhält es sich, wenn man sagt, dass jede Wissenschaft gut sei und jede Heilwissenschaft nicht gut sei; dann ist A in allen B aber in keinem[127] C enthalten, so dass eine einzelne Wissenschaft nicht Wissenschaft ist. Und wenn A in allen C und in keinem B enthalten ist und dabei B die Wissenschaft und C die Heilwissenschaft und A die Vermuthung ist; so hat man dann gesetzt, dass keine Wissenschaft eine Vermuthung sei, aber eine besondere Wissenschaft sei Vermuthung. Dieser Fall unterscheidet sich von den vorigen nur dadurch, dass die Begriffe hier gewechselt sind; vorher war das bejahende bei B, jetzt aber bei C. Auch wenn der eine Vordersatz nicht allgemein lautet, giebt es einen Schluss; denn Mittelbegriff ist immer der, welcher von den Einen verneinend, von den andern bejahend ausgesagt wird. Somit kann also aus zwei Gegensätzen ein Schluss gezogen werden; indess nicht immer und nicht durchaus, sondern nur wenn die beiden unter dem Mittelbegriff stehenden Begriffe sich so verhalten, dass sie entweder ganz oder zum Theil dasselbe sind. Ohnedem ist ein Schluss der hier besprochenen Art unmöglich, denn dann sind die Vordersätze weder gegentheilige noch widersprechende Gegensätze.

In der dritten Figur kann aus entgegengesetzten Vordersätzen niemals ein bejahender Schluss gebildet werden und zwar aus dem schon bei der ersten Figur erwähnten Grunde. Aber ein verneinender Schluss ist statthaft, mögen die Vordersätze allgemein oder beschränkt lauten. Denn es seien B und C die Wissenschaft und A die Heilwissenschaft. Setzt man nun, dass jede Heilwissenschaft eine Wissenschaft sei und keine Heilwissenschaft eine Wissenschaft, so ist B von allen A und C von keinem A gesetzt: mithin wird eine einzelne Wissenschaft keine Wissenschaft sein.

Ebenso verhält es sich, wenn der Vordersatz A B nicht allgemein lautet; denn wenn eine einzelne Heilwissenschaft eine Wissenschaft ist und wieder keine Heilwissenschaft eine Wissenschaft ist, so folgt, dass eine einzelne Wissenschaft keine Wissenschaft ist. Werden dabei die Begriffe allgemein gesetzt, so sind die Vordersätze Gegentheile; wird aber der eine Begriff nur beschränkt gesetzt, so sind die Vordersätze widersprechende Gegensätze.

Man muss hier beachten, dass es statthaft ist, die Vordersätze anzunehmen, wie ich z.B. gesagt, dass jede[128] Wissenschaft gut sei und wieder, dass keine gut sei, oder eine nicht gut, was allerdings nicht unbemerkt zu bleiben pflegt. Man kann aber auch auf einem andern Weg, durch Fragen den einen Gegensatz erschliessen, oder ihn so, wie in den Topiken gesagt worden, erlangen.

Da es von den bejahenden Sätzen drei Gegensätze giebt, so kann man die gegensätzlichen Vordersätze sechsfach aufstellen; nämlich nach: Allem und keinem; dann nach Allem und nicht allem und endlich nach Einigen und keinem; und bei jedem dieser drei Gegensätze können die Begriffe gewechselt werden; z.B.: A ist in allen B, aber in keinen C enthalten; und A ist in allen C, aber in keinen B enthalten; ferner A ist in allen B, aber nicht in allen C enthalten und man kann bei diesen Sätzen die Begriffe wechseln. Dies kann auch bei der dritten Figur geschehen und damit erhellt, wie vielmal und in welchen Figuren ein Schluss aus entgegengesetzten Vordersätzen gebildet werden kann.

Auch erhellt, dass man zwar aus falschen Vordersätzen Wahres schliessen kann, wie früher gezeigt worden; aber aus Gegensätzen kann kein Wahres geschlossen werden, da der Schluss immer gegen den Sachverhalt ausfällt, z.B. dass das, was gut ist, nicht gut sei, oder dass das, was ein Geschöpf ist, kein Geschöpf sei. Der Grund davon ist, dass der Schluss aus sich widersprechenden Vordersätzen hervorgeht und dass die benutzten Begriffe in beiden Vordersätzen entweder ganz oder zum Theil dieselben sind. Auch ist offenbar, dass auch bei Fehlschlüssen ein Widerspruch mit der ersten Annahme hervorgehen kann, z.B. dass das, was ungerade ist, nicht ungerade sei; denn aus entgegengesetzten Vordersätzen ergab sich ein dem Sachverhalt entgegengesetzter Schluss; setzt man also solche Vordersätze, so lautet der Schluss auf einen Widerspruch mit dem als wahr Angenommenen.

Man muss indess beachten, dass man auf diese Weise aus einem Schlusse in bejahender Form Gegentheiliges nicht erschliessen kann, z.B. dahin, dass das, was nicht gut ist, gut sei oder Anderes der Art, wenn nicht gleich der Vordersatz so angenommen wird; z.B. dass jedes Geschöpf weiss und nicht weiss sei und dass der Mensch ein Geschöpf sei. Oder man muss die Verneinung[129] hinzunehmen, z.B. dass jede Wissenschaft eine Vermuthung sei, und dann setzen, dass die Heilwissenschaft zwar eine Wissenschaft ist, aber keine Vermuthung; also In der Weise, wie die Widerlegungen geschehen. Oder man kann vermittelst zweier Schlüsse Entgegengesetztes in bejahender Form schliessen. Sollen aber die Vordersätze in Wahrheit gegentheilig lauten, so kann dies in einem Schlüsse nicht anders geschehen, als auf die vorher angegebene Weise.

Quelle:
Aristoteles: Erste Analytiken oder: Lehre vom Schluss. Leipzig [o.J.], S. 127-130.
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