Erstes Kapitel

Ich werde über die sophistischen Widerlegungen sprechen und über die, welche nur scheinbar Widerlegungen, aber in Wahrheit Fehlschlüsse und keine Widerlegungen sind, indem ich der Natur der Sache nach mit den ersteren beginne.

Dass nun manche derselben wirklich logisch-richtige Schlüsse sind, andere aber nicht, sondern solche nur zu sein scheinen, ist klar. So wie dies bei andern Dingen in Folge einer gewissen Aehnlichkeit stattfindet, so verhält es sich auch bei den Begründungen. So benehmen sich manche Menschen gut; bei andern scheint es nur so, indem sie sich gehörig aufblasen und zurecht richten. Ebenso sind Manche schön durch ihre Schönheit; Andere scheinen nur so, indem sie sich aufputzen. Auch bei leblosen Dingen findet sich das Gleiche; manches von ihnen ist echtes Silber oder Gold; anderes ist keines von beiden, aber hat ein solches Aussehen, wie z.B. das Geräthe aus Messing oder aus einer Mischung von Zinn und Silber, oder das von einer goldgelben Farbe. In derselben Weise ist auch der eine Schluss und die eine Widerlegung wirklich eine solche; andere sind es nicht, aber scheinen dem Unerfahrenen es zu sein, da die Unerfahrenen nur so, wie Entfernte, von Weitem hinsehen. Der wirkliche Schluss besteht aus gewissen Vordersätzen und sagt etwas von diesen Verschiedenes, aber vermittelst derselben mit Nothwendigkeit aus: und die wirkliche Widerlegung ist ein Schluss, welcher das Entgegengesetzte von einem gezogenen Schlusssatze[1] ergiebt. Manche Widerlegungen leisten dies nicht, aber scheinen es zu leisten, indem sie dabei von mancherlei Gesichtspunkten ausgehen, unter welchen der Gesichtspunkt, welcher sich auf die Worte stützt, der natürlichste ist und am meisten vorkommt. Da man nämlich bei den Disputationen die Dinge, über welche man streitet, nicht selbst herbeinehmen kann, sondern statt deren sich der Worte, als Zeichen der Dinge bedient, so meint man, dass das, was bei den Worten sich ergiebt, auch bei den Dingen gelten müsse, ähnlich wie bei dem Rechnen mit den Rechensteinen. Allein mit den Worten verhält es sich hierbei nicht, wie mit den Gegenständen; die Zahl der Worte und die Menge der Begriffe ist begrenzt, aber die Zahl der Dinge ist unbegrenzt. Deshalb muss derselbe Begriff und das eine Wort mehrere Dinge bezeichnen. So wie nun die, welche in der Behandlung der Rechensteine nicht besonders bewandert sind, von den Kennern irre geführt werden, ebenso machen auch die in der Bedeutung der Worte Unerfahrenen bei dem Begründen Fehlschlüsse, sowohl wenn sie selbst sprechen, wie wenn sie Andere hören. Aus diesen und anderweit zu besprechenden Gründen kommt zwar scheinbar ein Schluss oder eine Widerlegung zu Stande, aber nicht in Wirklichkeit.

Da nun Manchem mehr daran liegt, weise zu scheinen, als es zu sein und dabei es nicht zu scheinen (denn die sophistische Weisheit ist nur eine scheinbare, keine wirkliche, und der Sophist verdient sich Geld mit scheinbarer, aber nicht mit wirklicher Weisheit), so erhellt, dass solche Leute nothwendig lieber so scheinen wollen, als trieben sie das Geschäft eines Weisen, als dass sie es wirklich trieben, aber dabei den Schein davon nicht hätten. Das Geschäft des Wissenden ist aber, um dieses neben jenes zu stellen, der Art, dass er von den Dingen, die er kennt, nichts Unwahres sagt und dass er vermag, die falschen Behauptungen eines Anderen aufzudecken, d.h. dass er theils selbst Rechenschaft abzulegen, theils sie von Andern abzunehmen im Stande ist. Wer nun den Sophisten machen will, muss jene besagte Art des Disputirens zu erlangen suchen; denn sie ist für seinen Zweck dienlich, weil eine solche Geschicklichkeit ihm den Schein eines Weisen geben wird, worauf es bei ihm abgesehen ist.[2]

Dass es nun eine solche Art von Begründungen giebt und dass die, welche man Sophisten nennt, eine solche Geschicklichkeit erstreben, ist klar, und ich werde nun darüber sprechen, wie viele Arten der sophistischen Begründungen es giebt, aus wie vielen Erfordernissen der Zahl nach diese Geschicklichkeit sich zusammensetzt und wie viele Theile diese Untersuchung hat und von dem, was sonst noch zu dieser Kunst erforderlich ist.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 1-3.
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