Fünfzehntes Kapitel

[32] Ein Mittel zur sophistischen Widerlegung des Gegners besteht in der Länge derselben; denn es ist schwer, Vieles auf einmal zu übersehen. Um eine solche Länge zu erreichen, muss man die früher genannten Mittel benutzen. Ein anderes Mittel ist die Schnelligkeit der Rede; denn die hintennach Kommenden können weniger voraussehen. Auch der Zorn und der Wetteifer sind Mittel dafür, da alle, welche in Conflict gerathen, sich weniger in Acht nehmen können. Die Mittel, um den Antwortenden in Zorn zu versetzen, bestehen darin, dass man ihm merken lässt, man wolle ihm Unrecht thun und im Allgemeinen in einem unverschämten Benehmen. Ferner hilft es für das Widerlegen, wenn man mit den Fragen wechselt, insofern man für denselben Satz mehrere Gründe hat, oder wenn man Gründe sowohl für dessen Bejahung wie Verneinung hat; denn dann muss der Gegner gleichzeitig entweder auf Mehreres, oder auf das Entgegengesetzte Acht haben. Ueberhaupt kann alles das, was ich früher in Bezug auf das Verbergen des Zieles gesagt habe, auch für die streitsüchtigen Begründungen benutzt werden; denn man verbirgt etwas, damit es nicht bemerkt werde, und man will es vom Gegner nicht bemerkt haben, um ihn zu täuschen.[32]

Wenn aber der Gegner das verneint, wovon er glauben mag, dass der Fragende es zu seinem Beweise benutzen will, so muss dieser die Fragen auf das Entgegengesetzte richten, als wollte er dieses beweisen, oder er muss seine Fragen so stellen, dass der Gefragte nicht entnehmen kann, ob der Fragende die Bejahung oder die Verneinung benutzen will; denn der Gefragte wird weniger schwierig in seinen Zugeständnissen sein, wenn er nicht entnehmen kann, ob der Fragende die Bejahung oder die Verneinung benutzen will. Im Falle aber der Antwortende Einzelnes stückweise zugiebt, so darf der Fragende, welcher induktiv verfahren will, das Allgemeine nicht mehrmals zur Frage stellen, sondern er muss dies Allgemeine so, als wäre es bereits zugegeben, für seine Begründung benützen; denn mitunter glauben die Gefragten selbst, es zugestanden zu haben, und auch den Zuhörern scheint es so, weil sie die Induktion im Gedächtniss haben und die Fragen nicht für nutzlos gestellt halten.

In den Fällen, wo für das Allgemeine das Wort fehlt, muss man sich mit einem Aehnlichen für seine Zwecke zu helfen suchen, denn es wird oft nicht bemerkt, dass nur ein Aehnliches vorliegt. Auch muss man, um das Zugeständniss eines Satzes zu erlangen, das Entgegengesetzte daneben stellen und in dieser Weise fragen. Wenn z.B. der Fragende das Zugeständniss des Satzes braucht, dass man dem Vater in Allem gehorchen müsse, so muss er fragen, ob man den Eltern in Allem gehorchen müsse, oder in Allem nicht gehorchen? Und statt des »oft« muss man das »viel« benutzen und fragen, ob man den Eltern in Vielem oder in Wenigem zu Willen sein müsse? denn der Gegner wird, wenn er so wählen muss, sich eher für das »viel« entscheiden, weil, wenn man die Gegentheile nebeneinander stellt, diese dem Menschen grösser oder gross erscheinen und schlechter oder besser.

Am stärksten und häufigsten erzeugt jene am meisten sophistische Täuschung den Schein, dass man den Gegner widerlegt habe, wonach man, ohne einen Schluss gezogen zu haben, den Streitsatz gar nicht in eine Frage aufnimmt, sondern ihn als Schlusssatz ausspricht, als hätte man erwiesen, dass das und das nicht wahr sei, was der Gegner gesagt habe.[33]

Auch ist es ein sophistisches Verfahren, wenn man verlangt, dass der Gegner antworten solle, welcher Meinung er in Bezug auf den aufgestellten unglaubwürdigen Satz sei, indem man etwas Glaubwürdiges vorangeschickt hat, welches zum Beweise des unglaubwürdigen Satzes benutzt werden kann, und dann mit der Frage beginnt, ob er letzteres nicht für richtig halte? denn wenn die Frage etwas betrifft, was bejaht zur Widerlegung des Gegners führt, so muss der Antwortende sich entweder einer Widerlegung aussetzen, oder er muss etwas Unglaubwürdiges behaupten. Denn giebt er das Gefragte zu, so wird er widerlegt, und thut er dies nicht und sagt er, dass es ihm auch nicht so scheine, so spricht er etwas Unglaubwürdiges aus; antwortet er aber, dass es ihm so scheine, ohne jedoch die Frage zuzugeben, so führt auch dies zu einer Art von Widerlegung.

Ferner ist es, wie bei den rhetorischen Ausführungen, auch bei den sophistischen Widerlegungen rathsam, auf die Sätze des Antwortenden zu achten, welche entweder mit anderen von ihm ausgesprochenen in Widerspruch stehen, oder mit Sätzen, die er selbst als wahr oder sittlich anerkannt hat, oder die wenigstens einen solchen Schein für sich haben oder ihnen ähnlich sind, sei es, dass jene Sätze den meisten, oder allen von diesen letzteren Sätzen widersprechen. Wie nun die Antwortenden oft bei einer ihnen drohenden Widerlegung das Zweideutige benutzen, im Fall die Sache sich so gestaltet, dass sie widerlegt werden könnten, so müssen auch die Fragenden sich dieses Mittels gegen diejenigen bedienen, die ihnen mit Einwürfen kommen, und sie müssen, im Fall in dem einen Sinne das, was sie behaupten, sich ergiebt, in dem anderen Sinne aber nicht, sagen, dass sie es im ersten Sinne gemeint haben, wie Kleophon es in der Tragödie Mandrobulos thut. Auch muss der Fragende mitunter von der Begründung Abstand nehmen, um dem Gegner weitere Einwendungen abzuschneiden; antwortet man aber selbst und der Fragende merkt, dass er mit einem Beweisgrunde nicht durchkommen werde, so muss man, wenn er diesen Grund aufgeben will, ihm zuvorkommen und ihm zureden, dass er den Beweisgrund nicht fallen lasse. Mitunter muss der Fragende sich gegen[34] Anderes, was den Streitsatz nicht betrifft, wenden und diesen selbst fallen lassen, wenn er ihn mit nichts angreifen kann. So machte es Lykophron, als von ihm gefordert wurde, er solle die Leier prüfen. Wenn aber der Antwortende verlangt, dass der Fragende einen bestimmten Satz angreife und der Fragende billigerweise den Grund angeben muss, weshalb er von dem ursprünglich aufgestellten Satze abgehe, so muss er Einiges vorbringen, aber sorgfältig den allgemeinen Schlusssatz in seinen Widerlegungen verschweigen und nur das Entgegengesetzte behaupten, also das, was der Antwortende gesagt, verneinen und was jener verneint hat, bejahen; aber er darf nicht den Schlusssatz, zu welchem er gelangen will, bestimmter bezeichnen, z.B. dass es von Gegentheilen nur eine Wissenschaft gebe, oder dass es nicht blos eine davon gebe. Auch darf der Fragende den Schlusssatz seines Beweises bei seinen Fragen nicht voranstellen, und Manches darf er gar nicht in seine Fragen aufnehmen, sondern muss es so benutzen, als wäre es zugestanden.

Quelle:
Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Heidelberg 1883, S. 32-35.
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