Erstes Kapitel

[1] Aller Unterricht und alles Lernen geschieht, soweit beides auf dem Denken beruht, mittelst eines schon vorher bestandenen Wissens. Es erhellt dies, wenn man die sämmtlichen Wissenschaften betrachtet; denn man erlangt die mathematischen Wissenschaften auf diese Weise und ebenso jede andere Wissenschaft. Ebenso verhält es sich mit den Begründungen durch Schlüsse und durch Induktion; bei beiden geschieht die Belehrung vermittelst eines schon vorher bestandenen Wissens; bei jenen werden Sätze angenommen, wie sie bei allen Verständigen gelten; bei diesen wird das Allgemeine aus der Kenntniss des Einzelnen abgeleitet. Auch die Redner überzeugen auf gleiche Weise; entweder durch Beispiele, also durch Induktion, oder durch glaubhafte allgemeine Sätze, was ein Schliessen ist.

Man muss aber in zweifacher Weise ein Vorauswissen haben; bei manchen muss man voraussetzen, dass es ist; bei anderen muss man wissen, was das Ausgesagte ist; bei manchen muss beides vorhanden sein. So muss man schon wissen, dass von jedem Dinge entweder die Bejahung[1] oder die Verneinung wahr ist; bei dem Dreieck aber, was es bedeutet; und bei der Eins muss man beides vorherwissen, sowohl dass sie ist, als was sie bedeutet. Von diesen Bestimmungen ist nämlich nicht jede uns in gleicher Weise bekannt; manches lernt man kennen wo man schon vorher etwas davon wusste, manches auf einmal, wie z.B. das, was unter einem Allgemeinen steht, welches man schon kannte. So wusste man schon, dass die Winkel jedes Dreiecks zweien rechten gleich sind; aber dass diese, in dem Halbkreis eingezeichnete Figur ein Dreieck ist, erkennt man gleichzeitig mit dem Vorgeführtwerden. Von Manchem geschieht das Lernen auf diese Weise und man lernt das Besondere nicht durch einen Mittelbegriff kennen; nämlich alles, was als Einzelnes ist und nicht sich auf ein unterliegendes bezieht. Ehe es aber vorgeführt wird, oder der Schluss gezogen wird, findet in einer gewissen Weise schon ein Wissen statt, in einer anderen Weise aber nicht. Denn wenn man nicht weiss, ob etwas überhaupt besteht, wie kann man da wissen, dass dessen Winkel überhaupt zweien rechten gleich sind? Vielmehr ist klar, dass man zwar so weit weiss, als man das Allgemeine kennt; dass man es aber nicht im vollen Sinne weiss. Wäre dies nicht so, so geriethe man in die im Menon dargelegte Schwierigkeit, dass man entweder nichts lernen kann, oder nur das, was man schon weiss.

Diese Schwierigkeit ist also nicht so zu lösen, wie Einige versucht haben, indem sie die Frage stellten: Weisst Du also, dass jede Zwei gerade ist? oder weisst Du es nicht? Bejahte man nun die Frage, so führten sie eine Zwei an, von welcher der Gefragte nicht glaubte, dass sie bestehe, also auch nicht, dass sie gerade sei. Sie lösen nämlich die Schwierigkeit in der Weise, dass sie nicht behaupten, von jeder Zwei zu wissen, dass sie gerade sei, sondern nur von denen, die sie als eine Zwei kennen. Allein sie wissen doch das, wovon sie den Beweis innehaben und erlangt haben, und sie haben denselben nicht so erlangt, dass jener Satz nur von denjenigen Dreiecken gelte, von denen sie wissen, dass sie Dreiecke oder dass sie Zahlen sind, sondern als von allen Zahlen oder allen Dreiecken geltend; denn kein Obersatz wird so angesetzt, dass er nur von den Dir bekannten Zahlen,[2] oder von den Dir bekannten geradlinigen Figuren gelte, sondern, dass er von allen gelte. Sonach steht dem, wie ich glaube, nichts entgegen, dass man das was man lernt, gewissermaassen schon weiss und gewissermaassen doch nicht weiss. Widersinnig ist es nicht, wenn man das, was man lernt, gewissermaassen schon weiss, sondern nur, wenn man es in der Beziehung und in der Weise schon wusste, in der man es lernt.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 1-3.
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