Siebzehntes Kapitel

[97] Ist es wohl möglich, dass für dieselbe Wirkung bei allen Dingen desselben Begriffs nicht ein und dasselbe, sondern Verschiedenes als Ursache besteht, oder ist dies nicht möglich? Wenn die Ursache das Ansich und nicht blos ein Zeichen oder ein Nebensächliches betrifft, so ist dies nicht möglich: denn das Mittlere ist der Grund, dass der Oberbegriff von dem Unterbegriff ausgesagt werden kann. Verhält es sich aber mit der Ursache nicht so, so ist jene Annahme möglich; denn man kann auch nebensächliche Bestimmungen eines Gegenstandes als Wirkungen einer Ursache betrachten, aber solche Sätze können nicht als Streitsätze gelten. Geschieht dies aber nicht, so muss das Mittlere sich übereinstimmend verhalten und wenn die Aussenbegriffe zweideutig sind, so wird auch der Mittelbegriff zweideutig sein und sind sie zu einer Gattung gehörig, so wird auch der Mittelbegriff so sich verhalten. Weshalb können z.B. bei einer Proportion die mittleren Glieder gewechselt werden? Die Ursache davon ist bei den Linien eine andere, wie bei den Zahlen; und doch ist[97] sie dieselbe; nämlich so weit es Linien sind, ist die Ursache verschieden, so weit sie aber diese bestimmte Zunahme enthalten, ist die Ursache für beide dieselbe. So verhält es sich bei allen Dingen. Dass aber die eine Farbe der andern und die eine Figur der andern ähnlich ist, davon ist für jedes die Ursache eine andere; denn das »ähnlich« ist hier zweideutig; bei den Figuren besteht es darin, dass die Seiten in gleichen Verhältnissen stehn und die Winkel gleich sind; bei den Farben beruht aber das Aehnliche darauf, dass die sinnliche Empfindung dieselbe ist, oder auf etwas anderen der Art. Dinge, die nur der Aehnlichkeit nach dieselben sind, haben auch nur denselben Mittelbegriff der Aehnlichkeit nach. Dies beruht darauf, dass die Ursache der Wirkung und dem Gegenstande, an dem sie geschieht, entspricht und diese jener entsprechen. Nimmt man aber nur einen einzelnen Gegenstand, so reicht die Wirkung weitere so reicht z.B. die Bestimmung, dass die äussern Winkel vier rechten Winkeln gleich sind, weiter und gilt nicht blos bei dem Dreieck und Viereck, sondern bei allen geradlinigen Figuren; denn alle Figuren, bei denen die Aussenwinkel gleich vier rechten Winkeln sind, haben denselben Mittelbegriff. Der Mittelbegriff ist der Grund des Oberbegriffes und deshalb entstehen alle Wissenschaften durch Definitionen. So kommt das Laubverlieren dem Weinstock zu und erstreckt sich auch weiter; und es kommt auch dem Feigenbaum zu und geht auch darüber hinaus; aber es erstreckt sich nicht über alle Pflanzen mit breiten Blättern hinaus, sondern hat mit diesen den gleichen Umfang. Nimmt man aber den Oberbegriff zum Mittelbegriff, so wird er den Grund für das Laub verlieren. Dieser Oberbegriff ist nämlich für die andern der Mittelbegriff, weil alle Bäume von dieser Beschaffenheit sind. Weiter dann ist für dieses Abfallen der Mittelbegriff, dass der Saft vertrocknet, oder sonst ein Umstand der Art. Was ist also das Laubabfallen? Das Austrocknen des Saftes in dem Blattstiele.

Für die Untersuchung, wie Ursache und Wirkung einander entsprechen, wird folgende Darstellung Auskunft geben. A soll in dem ganzen B enthalten sein und B in jedem, was zu D gehört, aber auch noch in mehreren Andern. Hier wird B das Allgemeine für die unter D[98] gehörenden Dinge sein. Denn ich nenne allgemein das, was mit dem, wovon es ausgesagt wird, sich nicht austauschen lässt und erstes Allgemeine, was zwar mit jedem Einzelnen sich nicht austauschen lässt, wohl aber mit ihnen allen zusammen und auch nicht darüber hinaus reicht. Für die unter D befassten Dinge ist nur B die Ursache, dass ihnen A zukommt; also muss A über noch mehr Dinge, als die in B enthaltenen, sich erstrecken. Denn wenn dies nicht der Fall wäre, wie sollte da B mehr als A die Ursache sein? Wenn nun A auch in allen E enthalten ist, so werden alle unter E enthaltenen Dinge eine von B verschiedene Einheit ausmachen; denn wie könnte man sonst sagen, dass A allem zukommt, was in E enthalten ist, aber dass E nicht allen dem zukommt, was unter A enthalten ist? Denn weshalb sollte Etwas nicht Ursache sein, wenn es so wie A in allen D enthalten ist? Also wird auch E eine Einheit bilden? Man muss also auch hier nach einem Mittelbegriff suchen und dieser mag C sein. Also kann es wohl kommen, dass mehrere Ursachen für dieselbe Wirkung bestehen, aber doch nicht für die zu einer Art gehörenden Dinge. So kann z.B. Ursache des langen Lebens bei den vierfüssigen Thieren sein, dass sie keine Galle haben und bei den Vögeln ihre trockene Natur oder sonst ein Umstand. Wenn man also nicht gleich zu einen untheilbaren Begriff dabei gelangt und nicht blos Eines, sondern Mehreres als Mittleres auftritt, so sind auch der Ursachen mehrere.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 97-99.
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