Zweites Capitel

[2] Nothwendig ist entweder Einer der Anfang, oder mehre. Und wenn Einer, entweder unbeweglich, wie Parmenides und Melissos sagen, oder bewegt, wie die Naturforscher, deren einige die Luft nennen, andere das Wasser, als ersten Anfang. Wenn aber mehre, entweder begrenzte oder unbegrenzte. Und wenn begrenzte, aber doch mehr als Einer, entweder zwei, oder drei, oder vier, oder irgend eine andere Zahl. Es ist dieß dieselbe Untersuchung, wie wenn nach dem Wieviel des Seienden gefragt wird. Denn auch hier untersucht man zuvörderst, woraus das Seiende ist, und nach diesem handelt es sich, ob es eins, oder viele; begrenzt oder unbegrenzt viele. So daß die Untersuchung in der That dem Anfang und dem Grunde gilt, ob er einer oder viele.

Die Forschung nun, die auf Einheit und Unbeweglichkeit des Seienden ausgeht, ist nicht die Naturforschung. Denn wie auch der Geometer nichts mehr mit demjenigen zu thun hat, der die Anfänge läugnet, sondern dieß entweder einer andern Wissenschaft angehört, oder einer, die allen gemein ist; so der, der von den Anfängen selbst handelt. Denn es giebt keinen Anfang mehr, wenn nur Eines ist, und auf diese Weise Eines ist; da jeder Anfang entweder etwas beginnt, oder das erste unter mehren ist. Es ist also die Betrachtung des diesergestalt Einen gleich dem Reden über irgend einen beliebigen Satz von denen, die nur des Begriffes wegen aufgestellt werden; wie jener heraklitische; oder wie wenn man sagen wollte: Ein[2] Mensch sei das, was ist; oder dem Lösen einer spitzfindigen Aufgabe. So etwas heben auch wirklich jene beiden Lehren, die des Melissos und die des Parmenides: sie beginnen von falschen Voraussetzungen und fahren nicht in eigentlicher Schlußform fort. Besonders aber ist des Melissos Lehre schroff und durchaus einseitig. Doch, ist Ein seltsamer Grundsatz einmal zugegeben, so folgt das Uebrige von selbst. Wir nun gehen davon aus, daß das zur Natur Gehörige, entweder alles oder einiges, ein bewegtes ist. Dieß aber ergiebt sich aus der allmähligen Betrachtung der hierunter enthaltenen Gegenstände. Uebrigens braucht man nicht allem zu begegnen, sondern nur den falschen Schlüssen, die einer aus den Anfängen zieht: Z.B. die Verwandlung des Kreises in ein Viereck, die mittels der Kreisabschnitte, hat der Geometer zu widerlegen; die des Antiphon hingegen geht den Geometer nichts an. Indeß, da die Aufgaben jener zwar nicht die Natur zum Gegenstand haben, aber doch auf die Naturwissenschaft von Einfluß sind, so ist es vielleicht wohlgethan, sie ein wenig zu besprechen; denn die Betrachtung hat wissenschaftlichen Gehalt.

Wir beginnen am schicklichsten mit folgendem. Da Sein vielerlei bedeutet, so fragt sich, wie es diejenigen nehmen, die da sagen, daß alles Eins sei. Meinen sie ein Wesen dieses Alls, oder eine Größe, oder eine Beschaffenheit? Und weiter: wenn ein Wesen, ist es dann ein einzelnes, wie Ein Mensch, oder Ein Pferd, oder Eine Seele? oder eine auf gleiche Weise einzelne Beschaffenheit, z.B. weiß, oder warm, oder sonst etwas dergleichen? Denn alles dieß ist gar sehr verschieden, obwohl gleich unstatthaft es auszusagen. Wenn es nämlich sowohl Wesen, als auch Größe und Beschaffenheit sein soll, und dieß gleichviel ob getrennt von einander, oder nicht, so haben wir eine Vielheit des Seienden. Soll aber alles Beschaffenheit oder Größe sein, gleichviel ob daneben ein Wesen sei oder nicht sei, so ist[3] dieß seltsam; wenn man nichts anders seltsam nennen darf das Unmögliche. Denn nichts von den übrigen besteht getrennt, außer dem Wesen, da allem diesem etwas ihm zum Grunde liegendes vorausgesetzt wird, nämlich eben das Wesen. – Melissos aber nennt das Seiende unbegrenzt. So wäre das Seiende eine Größe. Denn das Unbegrenzte ist in der Größe. Daß aber ein Wesen unbegrenzt sei, oder eine Beschaffenheit, oder ein Leiden, ist nicht statthaft, außer nebenbei, wenn sie etwa zugleich Größen wären. Denn der Begriff des Unbegrenzten setzt die Größe voraus, aber nicht das Wesen oder die Beschaffenheit. Wenn nun aber das Seiende sowohl Wesen ist, als Größe, so ist es zwei, und nicht Eins. Ist es aber nur Wesen, so ist es nicht unbegrenzt, noch hat es irgend eine Größe; denn sonst wäre es eine Größe. – Da aber auch das Wort Eins vielerlei bedeutet, wie das Wort Sein, so ist auch in dieser Hinsicht zu sehen, auf welche Weise sie meinen, das Eins sei das Ganze. Man nennt aber Eins entweder das stetig Zusammenhängende, oder das Untheilbare, oder das, dessen Begriff, der sein Was enthält, einer und derselbe ist: wie Wein und Traubensaft. Ist es nun das stetig Zusammenhängende, so ist das Seiende vieles; denn ins unendliche theilbar ist das Stetige. Auch veranlaßt es Streitfragen über die Begriffe des Theils und des Ganzen, die vielleicht jene Lehre nichts angehen, aber an und für sich solche sind: ob Eins oder mehre der Theil und das Ganze, und wenn Eins, wie Eins; wenn mehre, wie mehre. So auch hinsichtlich der nicht stetig zusammenhängenden Theile, die, wenn ein jeder mit dem Ganzen unzertrennlich Eins ist, auch unter sich selbst es sind. – Ist es hingegen das Untheilbare; nun so kann es weder Größe, noch Beschaffenheit, noch unbegrenztes sein, wie doch Melissos sagt, noch auch begrenztes, wie Parmenides. Denn die Grenze ist untheilbar, nicht das Begrenzte. Soll endlich nach dem Begriffe[4] Eins sein das Seiende, wie Kleid und Rock, so verfällt man in jenen Behauptung des Heraklitos. Denn einerlei wäre dann für den Guten und für den Schlechten das Nichtgutsein und das Gutsein. So daß gut und nicht gut selbst einerlei wird, und Mensch und Pferd. Es handelt sich dann nicht mehr darum, daß Eins sei das Seiende, sondern daß es Nichts sei; und das Sein der Beschaffenheit nach, und das der Größe nach, fällt zusammen.

Es fiel auch diese Bedenklichkeit den Späteren bei, wie schon den Früheren, daß es ihnen begegnen möchte, das nämliche zugleich zu Einem zu machen und zu Vielen. Darum fingen einige an, das »ist« wegzulassen, wie Lykophron. Andere wandten den Ausdruck anders und fragten nicht: der Mensch ist weiß, sondern, er hat weiße Farbe angenommen; noch, er ist im Gange, sondern, er geht: damit sie nämlich nicht das »ist« ansetzend, zu Vielem machen möchte das Eine, als bezeichne etwas anschließendes das Eine und das Seiende. Vieles ist aber das Seiende, entweder dem Begriffe nach. So ist es ein anderes, weiß zu sein und musikalisch, doch kommt beides demselben zu; wir haben also als ein Vieles das Eine. Oder durch Sonderung, wie das Ganze und die Theile. Hier nun stutzten sie und ließen zu, daß das Eine Vieles sei. Als ginge es nicht an, daß das nämliche Eins sei und Vieles, doch nicht das Entgegengesetzte. Denn es ist ja das Eine, theils als Möglichkeit, theils als Wirklichkeit.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 2-5.
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