Viertes Capitel

[9] Die Lehre der Naturforscher hat zweierlei Gestaltungen. Die einen nehmen als einig Seiendes einen zum Grunde liegenden Körper an: entweder eines der drei Elemente, oder einen andern, der dichter ist als Feuer, feiner aber als Luft, und lassen aus diesem das Uebrige entstehen, dessen Vielheit sie auf Dichtigkeit und Dünne zurückführen. Dieß aber sind Gegensätze. Der allgemeine Ausdruck für sie ist: Ueberwiegen und Zurückbleiben: in diesem Sinne nennt Platon sie das Große und das Kleine; nur daß dieser dieselben als Stoff behandelt, das Eine aber als Formbestimmung; Andere aber das Eine zum Grunde liegende als Stoff, die Gegensätze aber als Unterschiede und Formbestimmungen; noch Andere aus dem Einen die darin enthaltenen Gegensätze herausziehen, wie Anaximander sagt. – An diese nun schließen sich diejenigen an, die da sagen, daß Eines[9] und Vieles ist, wie Empedokles und Anaxagoras, denn aus der Mischung ziehen auch diese das Uebrige heraus. Sie unterschieden sich von einander dadurch, daß der eine dieß in einem Kreislaufe, der andere es Einmal geschehen läßt, und daß dieser eine unbegrenzte Vielheit sowohl der gleichen Wesen, als der Gegensätze, jener nur die sogenannten Elemente annimmt. Es scheint aber Anaxagoras auf diese seine Annahme einer unbegrenzten Vielheit dadurch gekommen zu sein, daß er die gemeine Meinung der Naturforscher als wahr zum Grunde legte, als entstehe nichts aus dem was nicht ist. Denn deswegen sagen sie so: zugleich waren alle Dinge; und das Entstehen des Einzelnen ist nichts als Umbildung, oder, wie Einige sagen, Verbindung und Scheidung. Weiter aber, aus dem Entstehen aus einander schreiben sich die Gegensätze her. Sie waren also schon in jenem vorhanden. Denn wenn alles Entstehende nothwendig entweder aus Seiendem entsteht, oder aus Nichtseiendem, von diesen beiden aber das Entstehen aus Nichtseiendem unmöglich ist (denn in dieser Meinung stimmen alle überein, die von der Natur handelten); so mußten sie annehmen, was allein noch übrig blieb, daß aus Seiendem und schon Gegenwärtigem das Entstehen geschehe, doch, wegen Kleinheit der Massen, aus uns Unwahrnehmbarem. Darum sprechen sie, daß Alles in Allem gemischt sei. Denn sie sahen ja Alles aus Allem entstehen. Als unterschieden aber erscheine es, und werde Anderes zu Anderem genannt, nach dem was überwiegt durch seine Menge in der Mischung der unbegrenzten Theile. Denn daß unvermischt zwar ein Ganzes weiß oder schwarz, oder süß, oder Fleisch, oder Knochen sei, finde nicht statt. Wovon aber ein jedes das meiste hat, dieß scheine die Natur des Dinges zu sein.

Wenn nun das Unbegrenzte, sofern es unbegrenzt, unerkennbar ist; so ist das nach seiner Menge oder Größe[10] unbegrenzte, eine unerkennbare Größe; daß der Formbestimmung nach unbegrenzte, eine unerkennbare Beschaffenheit. Sind aber die Anfänge unbegrenzt sowohl nach Menge als auch nach Formbestimmung, so ist es unmöglich, das zu erkennen, was aus ihnen folgt. Denn dann nur glauben wir ein Zusammengesetztes zu erkennen, wenn wir wissen, woraus und welchermaßen es ist. – Ferner, wenn ein Ding, dessen Theil jede beliebige Größe oder Kleinheit haben kann, nothwendig selbst diese muß haben können, (ich spreche aber von solchen Theilen, in die das bestehende Ganze getheilt wird); wenn es hingegen unmöglich ist, daß ein Thier oder eine Pflanze jede beliebige Größe oder Kleinheit habe: so erhellt, daß auch keiner ihrer Theile so beschaffen sein kann. Denn dieß würde sich auf das ganze erstrecken. Fleisch aber, und Knochen und dergleichen, sind Theile des Thieres, und die Früchte der Pflanzen. Offenbar also ist es unmöglich, daß Fleisch oder Knochen oder etwas anderes sich gleichgültig verhält gegen die Größe, sei es in dem Vergrößern oder dem Verkleinern. – Weiter, wenn alles solches bereits gegenwärtig ist in einander, und nicht entsteht, sondern ausgeschieden wird als schon vorhandenes; nach dem Vorherrschenden genannt wird; entsteht aber ohne Unterschied aus Jedem (wie aus Fleisch Wasser durch Ausscheiden, oder Fleisch aus Wasser); jeder begrenzte Körper endlich aufgezehrt wird von einem begrenzten Körper: so erhellt, daß keineswegs in Jedem Jedes vorhanden sein kann. Denn scheidet man aus dem Wasser Fleisch aus, und dann wieder anderes aus dem von der Scheidung Ueberbliebenen, und so fort, so wird, wenn das Ausgeschiedene immer kleiner wird, es doch nicht über irgend eine bestimmte Größe durch seine Kleinheit hinausgehn. So daß also, wenn je die Scheidung zum Stehen kommt, nicht Alles in Allem enthalten ist; denn in dem übrigbleibenden Wasser ist dann kein Fleisch mehr vorhanden.[11]

Soll sie aber nie stillstehen, sondern stets neue Wegnahme statt finden: so sind in einer begrenzten Größe gleich begrenzte Theile enthalten von unbegrenzter Menge. Dieß aber ist unmöglich. Ueberdieß wenn jeder Körper durch Wegnahme eines Theils kleiner werden muß; von dem Fleische aber das Wieviel sowohl nach Größe als nach Kleinheit bestimmt ist: so ist klar, daß aus dem kleinsten Theile Fleisches kein Körper ausgeschieden werden mag; denn er wäre dann kleiner als der kleinste. Ferner, in den unbegrenzten Körpern wäre dann bereits gegenwärtig unbegrenztes Fleisch und Blut und Hirn; geschieden wohl von einander, nichts desto weniger aber seiend und unbegrenzt ein jedes. Dieß aber ist widersinnig.

Doch das: »keine vollkommene Scheidung,« ist unverständig zwar, aber doch richtig gesagt. Denn die Zustände sind unzertrennlich. Wären nämlich die Dinge eine Mischung, z.B. der Farben und ihrer sonstigen Eigenschaften, so ergäbe sich bei der Scheidung ein Weißes und ein Gesundes, welches weder zugleich etwas anderes wäre, noch auch etwas zum Grunde liegend hätte. In dem sonderbaren Falle demnach, ein Unmögliches zu suchen, findet sich der Gedanke, wenn er die Sonderung zwar anstrebt, sie aber zu vollbringen ihm unmöglich ist, sowohl nach der Größe als auch nach der Beschaffenheit: nach der Größe, weil es nicht eine kleinste Größe gibt, nach der Beschaffenheit, weil untrennbar sind die Zustände. – Nicht durchaus richtig aber ist auch die allgemeine Annahme des Anaxagoras von dem Entstehen des Gleichartigen. Denn von Einer Seite zwar wird der Schlamm in Schlamm zerlegt; von der andern aber nicht. Auch ist die Art nicht dieselbe, daß, wie Ziegel aus dem Hause, und das Haus aus Ziegeln, so auch Wasser und Luft aus einander bestehen und entstehen. Besser ist es, von Wenigem und Begrenztem auszugehen, wie Empedokles thut.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 9-12.
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