Fünftes Capitel

[38] Zuvörderst nun, wenn wir sehen, wie einiges stets auf dieselbe Weise geschieht, anderes wenigstens meistentheils, so ist ersichtlich, daß von nichts unter diesem Ursache der Zufall heißt, noch das Zufällige, weder von dem, was aus Nothwendigkeit und immer, noch von dem, was meistentheils geschieht. Allein weil etwas ist und geschieht auch außer diesem, und Alle dieß ein Zufälliges nennen, so erhellt, daß etwas ist der Zufall und das Ungefähr. Denn wir wissen, daß dieß oder jenes bestimmte aus Zufall, und daß das Zufällige dieß oder jenes bestimmte ist. – Von dem aber, was geschieht, geschieht ein Theil eines Zweckes wegen, der andere nicht. Von jenem aber ein Theil vorsätzlich, der andere nicht vorsätzlich; beides aber ist in dem, was eines Zweckes[38] wegen geschieht, begriffen. Also ist es klar, daß auch unter demjenigen, was weder nothwendig, noch gemeiniglich geschieht, einiges sich befindet, bei welchem die Zweckbeziehung statt finden mag. Es kann aber Bezug auf einen Zweck haben sowohl was nach Ueberlegung geschieht, als auch was von Natur. Wenn nun etwas dieser Art nebenbei geschieht, so erblicken wir hierin einen Zufall. Denn gleichwie das Seiende entweder an und für sich ist, oder Anhängendes und Beiläufiges: so kann dieß auch hinsichtlich der Ursache der Fall sein. So ist von dem Hause an und für sich zwar Ursache das zur Baukunst Gehörige; nebenbei aber das Weiße und das Musikalische. Das nun, was an und für sich Ursache ist, ist bestimmt; das aber was nebenbei, unbestimmt; denn Unendliches kann dem Einen anhängen. Wie nun gesagt, wenn bei dem, was eines Zweckes wegen geschieht, dieß vorkommt, dann heißt es von ungefähr und aus Zufall. Der eigene Unterschied aber dieser beiden von einander soll nachher bestimmt werden. Jetzt aber kann soviel ersichtlich sein, daß beide nicht ohne Zweckbeziehung sind. Z.B. um das Geld zu empfangen, wäre jemand gekommen, was er als Lohn erhalten sollte, wenn er es gewußt hätte. Er kam aber nicht deswegen, sondern es traf sich, daß er kam und dieß that, um das Geld zu erhalten; und dieß nicht, als sei er gewohnt, an den Ort zu kommen, oder komme aus Nothwendigkeit. Das Erhalten als Endziel nämlich gehört nicht zu denjenigen Ursachen, die in ihrer Wirkung enthalten sind, sondern zu denen aus Vorsatz und Ueberlegung. Es heißt dann, er sei aus Zufall gekommen. Wenn aber vorsätzlich und dieserwegen, oder wenn er stets oder meistentheils zu kommen pflegte, heißt es nicht aus Zufall. Es erhellt also, daß der Zufall nicht anderes ist, als die beiläufige Ursache von demjenigen, was absichtlich und eines Zwecks wegen geschieht. Darum findet hinsichtlich Eines und desselben Nachdenken[39] und Zufall statt; denn die Absicht ist nicht ohne Nachdenken. Unbestimmbar nun müssen die Ursachen sein, durch die das Zufällige geschehen mag. Daher scheint der Zufall zu dem Unbestimmten zu gehören und unklar dem Menschen; und es kann wohl so scheinen, als geschehe nichts aus Zufall. Alles dieß nämlich wird ganz mit Recht gesagt; denn es ist dem Begriffe gemäß. Denn gewissermaßen zwar findet das Geschehen aus Zufall statt. Wie nebenbei nämlich geschieht dieß, und es ist Ursache auf beiläufige Art der Zufall. Schlechthin aber von nichts; z.B. von dem Hause ist der Baumeister Ursache, nebenbei aber der Flötenspieler. Und von dem Kommen und das Geld Nehmen, ohne daß man deshalb gekommen ist, unbegrenzt vieles; denn man konnte kommen, um jemand zu sehen oder zu verfolgen, oder ein Schauspiel anzusehen, oder fliehend. Auch zu sagen, daß der Zufall etwas begriffloses ist, ist richtig. Denn einen Begriff giebt es von dem, was entweder stets ist, oder meistentheils; der Zufall aber ist in dem, was außer diesem geschieht. So daß, da unbestimmt, was auf diese Weise Ursache sein kann, auch der Zufall ein unbestimmbares ist. Doch kann man bei Einigem zweifeln, was unter dem vorhandenen Zufälligen die Ursache ist, z.B. von der Gesundheit, der Wind, oder die Sonnenwärme, oder nicht vielmehr das Haarabschneiden. Denn einige sind näher, andere entfernter unter den beiläufigen Ursachen.

Ein guter Zufall heißt, wenn etwas Gutes sich zufällig ereignet; ein übler Zufall oder ein Unfall aber, wenn etwas Uebeles. Ein Glückfall aber und Unglückfall, wenn dieses von Bedeutung ist. Darum heißt auch, beinahe ein großes Uebel oder Gut erfahren haben, einen Unglückfall oder Glückfall erfahren, wenn als vorhanden es nimmt das Nachdenken: denn was beinahe ist, scheint gleichsam um nichts entfernt zu sein. So heißt denn auch unbeständig das Glück, mit gutem Grunde, denn der Zufall[40] ist unbeständig. Weder stets nämlich noch meistentheils kann irgend ein Zufälliges sein. Es ist nun also beides Ursache, wie gesagt, nebenbei; der Zufall und das Ungefähr; bei demjenigen, was sich denken läßt als geschehend weder durchgehends noch meistentheils, und unter diesem, was sich in der Zweckbeziehung befinden könnte.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 38-41.
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