Siebentes Capitel

[71] Begriffgemäß ist es auch, daß der Zusetzung nach kein Unbegrenztes dergestalt zu sein sich zeigt, daß es alle Größe übertrifft; wohl aber der Theilung nach.[71] Denn umfaßt und erhalten wird, wie der Stoff, so auch das Unbegrenzte. Das Umgebende aber ist das Formwesen. Mit Recht sagt man auch, daß in der Zahl zwar es nach dem Minder eine Grenze gebe; nach dem Mehr aber ein stetes Uebertreffen jedweder Menge statt finde. Bei den stetigen Größen aber umgekehrt: nach dem Minder nämlich übertreffen sie jedwede Größe, nach dem Mehr aber gebe es keine unbegrenzte Größe. Der Grund ist, daß das Eins untheilbar ist in allem, was eins; z.B. der Mensch ist Ein Mensch, und nicht viele. Die Zahl aber ist eine Mehrheit von Einsen, und eine aus ihnen bestehende Größe. Darum muß man hier stehen bleiben bei dem Untheilbaren. Denn die Zwei und Drei sind abgeleitete Namen, eben so auch jede der übrigen Zahlen. Nach dem Mehr aber kann man stets hinzudenken. Denn unbegrenzt sind die Zertheilungen der stetigen Größe: es giebt also der Möglichkeit nach zwar ein letztes, der That nach aber nicht. Sondern stets übertrifft das Genommene alle bestimmte Anzahl. Es läßt sich aber hier die Zahl nicht trennen von der Zertheilung. Und kein bleibendes Sein hat die Unbegrenztheit, sondern ein Werden, wie die Zeit und die Zahl der Zeit. Bei den stetigen Größen aber findet das Gegentheil statt. Getheilt nämlich zwar wird ins Unbegrenzte das Stetige; nach dem Mehr aber ist es nicht unbegrenztes. Denn wie weit etwas vermag der Möglichkeit nach zu sein, so weit vermag es auch der That nach zu sein. Weil es also keine unbegrenzte, sinnlich wahrnehmbare Größe giebt, so kann es auch kein Uebertreffen jeder bestimmten Größe geben. Denn dann gäbe es etwas, das größer als der Himmel wäre.

Das Unbegrenzte ist aber nicht das nämliche in Bewegung und Größe und Zeit, wie eine einzelne Wesenheit; sondern das eine heißt so, wiefern es von dem andern abgeleitet ist. So heißt Bewegung so, weil sie die stetige[72] Größe voraussetzt, nach der die Bewegung oder Umbildung oder Vermehrung geschieht. Die Zeit aber wiederum von der Bewegung. Alle diese Begriffe wenden wir jetzt vorläufig an; späterhin werden wir suchen zu erklären, sowohl was jeder von ihnen ist, als auch, warum jede stetige Größe in Größen theilbar ist. – Es thut aber diese Begriffbestimmung keinen Eintrag den Betrachtungen der Mathematiker, indem sie insoweit aufhebt das Sein des Unbegrenzten als sei es der That nach, nach der Seite der Vermehrung hin ein nie zu durchgehendes. Denn auch bisher bedurften sie nicht des Unbegrenzten, noch machten sie davon Gebrauch: sondern nur des Seins jedweder begrenzten Linie, so groß sie dieselbe verlange. Auch kann jedwede stetige Größe auf dieselbe Weise getheilt werden, wie die höchste Größe. So wird es denn für die Beweisführung dort nichts ausmachen. Das Sein aber ist den seienden Größen vorzubehalten.

Da die Ursachen in vier Gattungen zerfallen, so sieht man, das als Stoff das Unbegrenzte Ursache ist. Und daß das Sein zwar für dasselbe Verneinung ist; das an sich zum Grunde liegende aber vielmehr das Stetige und sinnlich Wahrnehmbare. Offenbar gebrauchen auch alle die Andern als Stoff das Unbegrenzte. Darum auch ist es wunderlich, das Umgebende es sein zu lassen, und nicht vielmehr das Umgebene.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 71-73.
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