Vierzehntes Capitel

[117] Da wir nun dieses durchgegangen sind, so ist ersichtlich, daß alle Veränderung geschehen, und alles Bewegte sich bewegen muß in der Zeit. Denn das Schneller oder Langsamer findet statt bei aller Veränderung. In Allem nämlich zeigt es sich so. Ich meine es aber so, daß schneller sich bewegt, was früher übergeht in das, worin es bleiben soll, bei einerlei Zwischenraum und gleichmäßiger Bewegung; z.B. bei der räumlichen Bewegung, wenn beides sich im Kreisbogen bewegt, oder beides in gerader Linie; eben so auch bei den anderen. – Jedenfalls nun ist das Vor in der Zeit. Denn Vor und Nach sagen wir nach der Entfernung von dem Jetzt; das Jetzt aber ist Grenze des Vergangenen und des Zukünftigen. Also weil das Jetzt in der Zeit, wird auch das Vor und Nach in der Zeit sein; denn wo das Jetzt, da ist auch die Entfernung von dem Jetzt. – Auf entgegengesetzte Weise aber wird das Vor gesagt von der vergangenen Zeit und von der zukünftigen. Bei der Vergangenheit nämlich nennen wir Vor das Entferntere von dem Jetzt, Nach aber das Nähere; in der Zukunft aber Vor das Nähere, Nach das Entferntere. – Also weil das Vor in der Zeit, in aller Bewegung aber vorhanden ist das Vor: so sieht man, daß alle Veränderung und alle Bewegung in der Zeit ist.

Werth aber der Betrachtung ist, theils wie sich wohl verhält die Zeit zu der Seele, theils warum in Allem zu sein scheint die Zeit, im Erde, und in Meer, und Himmel. Vielleicht weil sie von der Bewegung ein Zustand ist oder eine Eigenschaft, da sie ja ihre Zahl ist. Alle diese Dinge aber sind beweglich; denn in dem[117] Raume sind sie alle. Die Zeit aber und die Bewegung sind zugleich, sowohl der Möglichkeit, als der Wirklichkeit nach. – Ob aber wenn nicht wäre die Seele, wäre die Zeit oder nicht, könnte man zweifeln. Denn könnte kein Zählendes sein, so könnte auch nicht ein Zählbares sein: also offenbar auch keine Zahl; denn Zahl ist entweder das Gezählte oder das Zählbare. Ist nun nichts anderes, als die Seele, im Stande zu zählen, so kann es keine Zeit geben, wenn es keine Seele giebt; außer das was an sich ist die Zeit: gleichwie wenn statthaft sein sollte eine Bewegung ohne Zeit. Das Vor und Nach nun ist in der Bewegung; die Zeit aber ist dieses, wiefern es zählbar ist. – Man könnte auch fragen, von welcherlei Bewegung die Zeit Zahl ist, oder ob von allerlei. Denn Entstehung ist in der Zeit und Untergang, und Wachsthum, und Umbildung in der Zeit, und Ortveränderung. Als einer Bewegung demnach ist sie jeder Bewegung Zahl. Darum ist sie schlechthin Zahl von stetiger Bewegung, und nicht von einer bestimmten. – Aber es kann demselben Augenblick auch etwas anderes sich bewegen, und jede von beiden Bewegungen möchte eine Zahl haben. Soll nun eine andere die Zeit sein, und wären zugleich zwei gleiche Zeiten; oder nicht? Alle Zeit nämlich ist Eine, eben so wie zugleich; der Art nach aber auch diejenigen, die nicht zugleich sind. Wenn nämlich Hunde wären und Pferde, jede von beiden sieben, so ist die Zahl dieselbe. Eben so ist von den zugleich geschehenden Bewegungen die Zeit dieselbe; aber vielleicht ist die eine schnell, die andere nicht, und die eine Ortveränderung, die andere Umbildung. Die Zeit jedoch ist die nämliche, wenn nur die Zahl gleich und zugleich ist, die von der Umbildung und der Ortveränderung. Und deswegen sind die Bewegungen zwar verschiedene und getrennt; die Zeit aber allenthalben die nämliche, weil auch die Zahl Eine und allenthalben dieselbe[118] ist, die von dem was gleich und zugleich. Und da es eine Raumbewegung giebt, und unter dieser die im Kreise, jedes Ding aber gezählt wird mit Einem verwandten, die Einheiten mit der Einheit, die Pferde mit dem Pferde: also auch die Zeit mit einer bestimmten Zeit. Es wird aber gemessen, wie wir sagten, die Zeit durch Bewegung, und die Bewegung durch Zeit. Dieß aber heißt, daß durch die durch Zeit bestimmte Bewegung gemessen wird die Größe sowohl der Bewegung, als auch der Zeit. Wenn nun das Erste Maß für alles Verwandte ist, so ist die gleichmäßige Kreisbewegung Maß vornehmlich, dafern die Zahl von dieser die leichtest verständliche. Umbildung nun und Wachsthum und Entstehung sind nicht gleichmäßig; die räumliche Bewegung aber ist es. Darum auch erscheint die Zeit als Bewegung einer Kugel, weil durch diese gemessen werden die andern Bewegungen, und die Zeit durch diese Bewegung. Deswegen aber geschieht es, daß das Gewohnte gesagt wird. Man spricht nämlich von einem Kreise der menschlichen Dinge, und der übrigen, die natürliche Bewegung haben und Entstehung und Untergang. Dieß aber, weil dieß alles nach der Zeit geschätzt wird, und Ende und Anfang nimmt, als wie nach einem Umlauf. Und die Zeit selbst gilt für einen Kreis. Dieß aber er scheint wiederum so, weil sie solcher Raumbewegung Maß ist, und gemessen wird selbst von solcher. Also ist, zu sprechen von einen Kreise der Dinge die da werden, eben soviel als zu sprechen von einem Kreise der Zeit. Dieß aber, weil sie gemessen wird durch die Kreisbewegung. Denn neben dem Maße erscheint als nichts anderes das was gemessen wird, als eine Mehrheit von Maßen, das Ganze. – Man sagt auch mit Recht, daß die nämliche die Zahl der Schaafe und der Hunde, wenn beide gleich sind. Die Zehn aber ist nicht dieselbe, noch sind es dieselben zehn, gleichwie auch nicht die Dreiecke dieselben sind, das gleichseitige und das ungleichseitige,[119] obgleich die Gestalt dieselbe ist, da Dreiecke beide sind. Denn Dasselbe heißt etwas mit dem, nach dessen Unterschied es sich nicht unterscheidet, nicht aber, nach dessen es sich unterscheidet. Z.B. zwischen Dreieck und Dreieck findet ein Unterschied statt; darum sind verschieden die Dreiecke. An Gestalt aber unterscheiden sie sich nicht, sondern sind enthalten in einer und derselben Abtheilung. Denn die Gestalt ist, eine solche ein Kreis, eine solche andere ein Dreieck; von diesem aber ist ein solches ein gleichseitiges, ein solches andere ein ungleichseitiges. An Gestalt nun ist Dasselbe auch dieses; denn es ist Dreieck. Als Dreieck aber ist es nicht Dasselbe. Und so ist auch die Zahl dieselbe. Denn nicht unterscheidet sich nach einem die Zahl betreffenden Unterschiede ihre Zahl. Die Zehn aber ist nicht dieselbe. Denn wovon sie gesagt wird, dieß unterscheidet sich: das eine nämlich sind Hunde, das andere Pferde. – Und über die Zeit nun, sowohl sie selbst, als was zu ihrer Betrachtung gehört, ist genug gesagt.[120]

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 117-121.
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