Sechstes Capitel

[158] Da aber alles was sich verändert, in der Zeit sich verändert, in der Zeit sich verändern aber gesagt wird theils in einer zunächst, theils mittelbar durch eine andere, z.B. in dem Jahre, weil es in dem Tage sich verändert: so muß, in welcher Zeit zunächst die Veränderung geschieht, in jedwedem Theile von dieser sie geschehen. Dieß nun erhellt aus der Bezeichnung: denn das Zunächst haben wir so beschrieben. Allein auch aus Folgendem ergiebt es sich. Es sei, worin zunächst die Veränderung geschieht, X R, und es werde getheilt nach dem K. Denn alle Zeit ist theilbar. In der Zeit X K also findet entweder Bewegung statt, oder sie findet nicht statt. Und wiederum in der K R eben so. Wenn nun in keiner von[158] beiden Bewegung stattfände, so fände Ruhe in der ganzen statt. Denn daß Bewegung, wenn in keinem Theile davon Bewegung, ist unmöglich. Wenn aber nur in einem von beiden Bewegung stattfindet, so fände sie nicht zunächst in der X R statt. Vermittelt nämlich durch andere Zeit wäre die Bewegung. Es muß also in jedwedem Theile der X R Bewegung sein.

Da aber dieses bewiesen ist, so sieht man, daß alles was sich bewegt, sich bewegt haben muß zuvor. Wenn nämlich in der Zeit X R etwas zunächst durch die ausgedehnte Größe K L sich bewegt hat, so wird in der halben, was gleich schnell sich bewegt und zugleich anfing, halb so viel sich bewegt haben. Wenn aber das Gleichschnelle in der nämlichen Zeit sich bewegt hat, so muß auch das andere durch die nämliche Größe sich bewegt haben. Ferner wenn wir sagen, daß in der ganzen Zeit X R es sich bewegt haben soll, entweder überhaupt, oder in irgend einem besondern Zeittheile: indem das letzte Jetzt davon angegeben wird, (denn dieß ist das Bestimmende, und was zwischen den Jetzt ist, ist Zeit): so würde gesagt werden müssen, daß es auch in den übrigen sich auf gleiche Weise bewegt habe. Von der Hälfte nämlich ist das Letzte das Theilende. Also wird es auch in der Hälfte sich bewegt haben, und überhaupt in jedem der Theile. Denn stets wird mit der Theilung zugleich eine Zeit bestimmt durch die Jetzt. Wenn nun alle Zeit theilbar; was aber zwischen den Jetzt, Zeit ist: so muß alles, was sich verändert, schon unendliche Veränderungen bestanden haben. Ferner wenn das sich stetig Verändernde, und was weder untergegangen ist, noch sich zu verändern aufgehört hat, nothwendig theils sich verändern, theils sich verändert haben muß in irgend etwas, in dem Jetzt aber kein sich Verändern stattfindet: so muß es sich verändert haben in Bezug auf jedes einzelne Jetzt. Also wenn die Jetzt unbegrenzte sind, so wird auch alles sich Verändernde[159] unzählige Veränderungen bestanden haben. Nicht allein aber muß, was sich verändert, schon sich verändert haben, sondern auch, was sich verändert hat, muß sich verändern zuvor. Alles nämlich, was aus etwas in etwas übergegangen ist, ist in der Zeit übergegangen. Denn es sei in dem Jetzt aus A in B übergegangen. Ist es nun nicht in dem nämlichen Jetzt zwar, in welchem es ist in A; nicht übergegangen? Denn es wäre ja sonst zugleich in A und B. Denn daß, was sich verändert hat, wenn es sich verändert hat, nicht ist in diesem, ist gezeigt worden zuvor. Wenn aber in einem Andern, so ist dazwischen die Zeit. Denn nicht waren aneinanderstoßend die Jetzt. Da es nun in der Zeit sich verändert hat, alle Zeit aber theilbar ist, so wird es in der halben eine andere Veränderung bestanden haben, und wiederum in der halben von jener eine andere, und stets so fort. Also möchte es zuvor sich verändern müssen. Noch deutlicher aber ist das Gesagte in Bezug auf die Ausdehnung, weil stetig ist die Ausdehnung, in welcher die Veränderung geschieht. Es sei nämlich etwas übergegangen aus C in D. Wird nun nicht, wenn untheilbar ist das C D, ein Theilloses durch ein Theilloses sich fortsetzen? Da aber dieß unmöglich ist, so muß eine Ausdehnung sein, was da zwischen liegt, und ins Unbegrenzte theilbar. So daß es in jenes übergeht zuvor. Es muß also alles, was sich verändert hat, sich verändern vorher. Derselbe Beweis nämlich gilt auch von dem nicht Stetigen, z.B. bei den Gegensätzen, und bei dem Widerspruche. Hier nämlich nehmen wir die Zeit, in welcher die Veränderung geschah, und sagen wiederum dasselbe. – Also muß was sich verändert hat, sich verändern, und was sich verändert, sich verändert haben, und es hat das sich Verändert haben zwar das sich Verändern zu seiner Voraussetzung, das sich Verändern aber das sich Verändert haben; und nie wird man gelangen zu einem Ersten. Grund hievon[160] aber ist, daß nicht Theilloses durch Theilloses sich fortsetzt. Denn ins Unbegrenzte geht die Theilung, wie bei dem Verlängern und dem Verkürzen der Linien. Ersichtlich also ist, daß auch, was geworden ist, werden muß zuvor, und was wird, geworden sein, soviel nämlich theilbar und stetig ist; nicht jedoch immer, was es wird, sondern zuweilen ein anderes, z.B. etwa dazu gehöriges, wie von dem Hause der Grundbau. Eben so auch bei dem was untergeht und untergegangen ist. Denn unmittelbar ist in dem Werdenden und Vergehenden etwas Unbegrenztes gegenwärtig, da es ja stetig ist. Und nicht vermag weder zu werden, was nicht geworden ist, noch geworden sein, was nicht wird. Eben so auch bei dem Vergehen und Vergangensein: stets nämlich wird das Vergehen ein Vergangensein vor sich haben, und das Vergangensein ein Vergehen. – Man sieht also, daß sowohl das Gewordene werden muß zuvor, als auch das Werdende geworden sein. Denn alle Ausdehnung und alle Zeit sind immer theilbar. So daß, worin auch etwas ist, darin es nicht als in einem Ersten ist.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 158-161.
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