[596] 32. yâvad-adḥikâram avasthitir âdhikârikâṇâm
solange die Betrauung, bestehen die Betrauten.

›Es fragt sich, ob für den Wissenden, nachdem sein gegenwärtiger Leib dahingefallen ist, noch ein neuer Leib entsteht oder nicht.‹ – Aber diese Frage, ob nach Erlangung des Wissens als Mittels die Vollbringung der Erlösung erfolgen oder auch nicht erfolgen könne, ist doch gar nicht statthaft. Denn es geht nicht an zu fragen, ob nach Erlangung des Kochens als Mittels der Reisbrei[596] entsteht oder nicht, und es hat keinen Zweck zu fragen, ob der Essende sich sättige oder nicht. – ›Inzwischen ist diese Erwägung doch am Platze, und zwar, weil aus den epischen und mythologischen Gedichten Fälle angeführt werden können, in welchen gewisse Brahmanwisser doch noch einen neuen Leib erhielten. So berichtet die Smṛiti, dass ein Vedalehrer mit Namen Apântaratamas, ein alter Weiser, auf Befehl des Vishṇu in der Zwischenzeit zwischen dem Kali-Zeitalter und dem Dvâpara-Zeitalter als Kṛishṇadvaipâyana geboren worden sei. Ferner erhielt Vasishṭha, ein geistiger Sohn des Brahman, nachdem sein früherer Leib durch den Fluch des Nimi ihm verloren gegangen war, wieder auf Befehl des Brahman durch Vermittelung des Mitra und Varuṇa eine Leiblichkeit. Auch berichtet die Smṛiti, wie Bhṛigu und andere gleichfalls geistige Söhne des Brahman beim Varuṇa-Opfer wieder ins Dasein traten. Und auch Sanatkumâra, ebenfalls ein geistiger Sohn des Brahman, wurde selbsteigen dem Rudra zufolge einer Geschenkverleihung als Skanda geboren. In ähnlicher Weise findet sich vielfach in der Smṛiti berichtet, wie Daksha, Nârada und andere aus diesem oder jenem Grunde noch einen neuen Leib erhielten. | Und auch in der Schrift wird in Mantra's und Erklärungen nicht selten darauf Bezug genommen. Und zwar erhielten einige der Genannten den neuen Leib, nachdem ihr vorheriger Leib dahingefallen war, andere hingegen, während er noch bestand, indem sie, kraft der durch die Yoga-Praxis erlangten Gottherrlichkeit, mehrere Leiber zugleich annahmen. Von allen diesen aber wird berichtet, dass sie sich den ganzen Inhalt des Veda zu eigen gemacht [somit das die Erlösung bewirkende Wissen erlangt] hatten. Wenn man nun sieht, wie auch bei solchen Männern noch ein neuer Leib entstanden ist, so könnte man denken, dass das Wissen vom Brahman, jenachdem es kommt, die Ursache der Erlösung und wiederum nicht die Ursache der Erlösung sein könne.‹ – Hierauf ist zu antworten, dass dem nicht so ist; denn wenn jene genannten, Apântaratamas u.s.w., noch leiblich fortbestanden, so geschah dies infolge einer Betrauung, indem sie mit gewissen Ämtern, von welchen der Bestand der Welt abhängig ist, z.B. mit der Verbreitung des Veda, betraut wurden. Denn wie jener heilige Savitar (die Sonne), nachdem er tausend Weltperioden hindurch seine Weltmission erfüllt hat, zuletzt nicht mehr aufgeht und untergeht, sondern Absolutheit geniesst, – wie die Schrift sagt: »aber dann, nachdem er emporgestiegen, wird er nicht mehr aufgehen und nicht mehr untergehen, sondern wird allein in der Mitte stehen« (Chând. 3, 11, 1), – und wie auch die lebenden Brahmanwisser, nachdem der angebrochene Werkgenuss verbraucht ist, die Absolutheit geniessen, indem es heisst: »diesem [Welttreiben] werde ich nur so lange angehören, bis ich erlöst sein werde, darauf werde ich heimgehen« (Chând. 6,[597] 14, 2), – ebenso muss man annehmen, dass auch die Götterherren, Apântaratamas u.s.w., von dem höchsten Herrn mit dieser oder jener Mission | betraut, trotzdem sie die vollkommene Erkenntnis, welche die Bedingung der Vollendung ist, besassen, [noch] nicht schwindenden Werks, »solange die Betrauung« dauerte, bestanden und erst nach ihrer Beendigung dispensiert wurden. Indem nämlich dieselben einen Komplex von Werken [als die unumgängliche Ursache der Leiblichkeit], welcher zu dem Zwecke, die Betrauung als Frucht zu bringen, [nicht durch ein vorhergehendes Leben, sondern] auf einen Schlag entstanden ist, verbringen und dabei frei, wie aus einem Hause ins andere, in diesen oder jenen Leib fahren, um ihre Mission zu vollbringen, ohne dass die Rückerinnerung ihnen geraubt wäre, so schaffen sie, vermöge ihrer Herrschaft über das Material des Leibes und der Organe, für sich Leiber und gehen in dieselben gleichzeitig oder nacheinander ein. Dabei sind sie nicht der Erinnerung an die frühere Geburt beraubt [lies: ajâtismarâḥ], denn eben dass sie diese oder jene [früher Dagewesenen] sind, beweist, dass sie Rückerinnerung besitzen. So erzählt die Smṛiti, wie die Brahmanlehrerin Sulabhâ, als sie wünschte, sich mit dem Janaka zu unterreden, ihren Leib verliess, in den Leib des Janaka einging, und nachdem sie sich mit demselben [innerlich] unterredet hatte, wieder in ihren eigenen Leib zurückkehrte (vgl. Mahâbh. 12, 11854 fg.). Wenn nun bei diesen [die alle Werke durch das Wissen verbrannt haben], neben demjenigen Werke, welches ihnen [zum Zwecke des abermaligen, für ihre Mission erforderlichen Lebenswandels, aufs neue] aufgebürdet wird und [nicht als die Frucht eines früheren Lebens, sondern] mit einem Schlage zustande kommt, noch ein anderes [von früher her restierendes] Werk, als die Ursache einer neuen Verkörperung [in dem der Mission dienenden Lebenswandel] zur Offenbarung käme, so würden, ebenso gut wie jenes [ihnen aufgetragene] Werk, noch andere Werke, deren Same nicht verbrannt wäre, erfolgen müssen, und es würde die Frage zu erheben sein, ob nicht das Brahmanwissen nur teilweise zur Erlösung führe und teilweise nicht. Diese Frage aber ist nicht zulässig, weil Schrift und Smṛiti daran festhalten, dass durch die Erkenntnis der Same der Werke verbrannt werde. Denn so sagt die Schrift (Muṇḍ. 2, 2, 8):


»Wer jenes Höchst' und Tiefste schaut,

Dem spaltet sich des Herzens Knoten,

Dem lösen alle Zweifel sich,

Und seine Werke werden Nichts«;


und wiederum sagt sie: »bei Erlangung der Erinnerung erfolgt die Auflösung aller Knoten« (Chând 7, 26, 2.) Und auch die Smṛiti sagt (der erste Vers steht Bhag. G. 4, 37):[598]


»Wie Feuersglut das Holz in Asche wandelt,

So der Erkenntnis Feuer alle Werke.« –

»Wie Same nicht mehr wächst wenn er verbrannt ist,

So nicht der Seele Not, verbrannt vom Wissen.«


Denn nachdem die Verbrennung des Nichtwissens und der übrigen Plagen stattgefunden hat, so ist es nicht möglich, dass der den Samen der Plagen bildende Komplex von Werken an einem Teile verbrannt sei und am andern Teile fortwachse. Denn wenn z.B. der Same der Reispflanze vom Feuer geröstet worden ist, so ist es nicht möglich, dass ein Teil desselben noch weiter wachse. Was hingegen denjenigen Komplex von Werken betrifft, dessen Frucht schon in der Entwicklung begriffen ist, so kommt er, ähnlich wie der abgeschossene Pfeil erst nach Verbrauch der Schnellkraft, erst dann zur Ruhe, wie die Worte: »diesem werde ich so lange angehören« (Chând. 6, 14, 2) beweisen, wenn sein Verbrauch den Dahinfall des Körpers bewirkt. Somit ist es richtig, dass »die Betrauten bestehen, solange die Betrauung« dauert, und dass die Frucht der Erkenntnis nicht zu verschiedenen Zielen führt, sondern nur zu einem. In diesem Sinne lehrt auch die Schrift, dass für alle ohne Unterschied aus der Erkenntnis die Erlösung entspringt: »darum, wer immer von den Göttern dieses erkannte, der wurde zu demselbigen, und ebenso von den Ṛishi's, und ebenso von den Menschen« (Bṛih. 1, 4, 10.) Denn man darf annehmen, dass auch die grossen Ṛishi's nur mit andern Erkenntnissen, welche blosse Gottherrlichkeit u.s.w. als Frucht bringen, ausgestattet sind, und dass eben dieselben späterhin, wenn sie zu ihrer Betrübnis wahrnehmen, dass es mit der Gottherrlichkeit zu Ende geht, in die Erkenntnis des höchsten Âtman eindringen und dadurch erst zur Erlösung eingehen. | Denn die Smṛiti sagt:


»Nachdem der Welt Auflösung ist gekommen,

Und Gottes auch, dan gehen im Verein

Mit ihm, das Selbst erlangend, alle Frommen

In jenes höchste der Gefilde ein.«


Ein Zweifel nämlich, ob die Frucht der Erkenntnis auch ausbleiben könne, ist nicht statthaft, weil diese Frucht vor Augen liegt. Ja, was die Frucht der Werke, den Himmel u.s.w., betrifft, so beruht dieselbe nicht auf unmittelbarer Innewerdung, und hier mag wohl die Frage auftauchen, ob die Frucht erfolgen werde oder nicht. Die Frucht der Erkenntnis hingegen beruht auf unmittelbarer Innewerdung, denn die Schrift sagt: »das immanente nicht transscendente Brahman« (Bṛih. 3, 4, 1), und die Worte »das bist du« (Chând. 6, 8, 7) weisen auf etwas hin, was schon vollbracht ist; denn die Worte »das bist du« darf man nicht so auffassen, als bedeuteten sie »das wirst du erst nach dem Tode sein«. Sondern[599] wenn es heisst: »dieses erkennend hob Vâmadeva, der Ṛishi, an (Ṛigv. 4, 26, 1): ›ich war einst Manu, ich war einst die Sonne‹« (Bṛih. 1, 4, 10), so beweisen diese Worte, dass schon zur Zeit der vollkommenen Erkenntnis die Frucht derselben, nämlich das Werden zur Seele des Weltalls, eintritt. Somit steht es fest, dass die Erlösung des Wissenden eine unfehlbare ist.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 596-600.
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