[161] 22. anukṛites; tasya ca
wegen der Nachmachung; und »von seinem« –

Die Schrift sagt (Muṇḍ. 2, 2, 10 = Kâṭh. 5, 15):


»Dort leuchtet nicht die Sonne, nicht Mond und Sterne,

Noch leuchten jene Blitze, viel weniger irdisches Feuer,

Ihm, der da leuchtet, leuchtet alles nach,

Das Ganze hier erglänzt von seinem Lichte.«


Hier ist zweifelhaft, ob unter dem, der da leuchtet, dem alles nachleuchtet, und von dessen Lichte die ganze Welt hier erglänzt, irgend eine Lichtmaterie oder der erkenntnisartige Âtman [prâjña' âtma, d.h. die höchste Seele] zu verstehen ist.

Angenommen also, ›es sei unter dem, »der da leuchtet«, eine Lichtmaterie zu verstehen; warum? weil er das Leuchten der Sonne u.s.w., welche gleichfalls Lichtmaterien sind, aufhebt. | Denn die Erfahrung zeigt, wie die natürlichen Lichtquellen des Mondes, der Sterne u.s.w. bei Tage, während die gleichfalls[161] natürliche Lichtquelle der Sonne leuchtet, nicht leuchten. Hieraus ist zu schliessen, dass dasjenige, in dessen Gegenwart Mond und alle Sterne mitsamt der Sonne nicht leuchten, gleichfalls eine natürliche Lichtquelle sein muss. Auch dass demselben die übrigen »nachleuchten«, ist nur dann, wenn es selbst eine natürliche Lichtquelle ist, zutreffend, indem ein Nachahmen nur unter Wesen gleicher Art stattfindet, z.B. wenn der eine das Gehen das andern nachahmt. Somit muss hier irgend eine Lichtmaterie gemeint sein.‹

Auf diese Annahme erwidern wir, dass nur der erkenntnisartige Âtman (Gott) gemeint sein kann. Warum? »wegen der Nachmachung«, d.h. wegen des Nachahmens; nämlich die Worte »ihm, der da leuchtet, leuchtet alles nach« reden von einem Nachleuchten, welches, wenn man den Erkenntnisartigen versteht, ganz passend ist, denn von dem erkenntnisartigen Âtman sagt die Schrift: »Licht ist seine Gestalt, sein Ratschluss ist Wahrheit« (Chând. 3, 14, 2); während hingegen, wie die Erfahrung beweist, nicht behauptet werden kann, dass die Sonne u.s.w. irgend einer andern Lichtmaterie nachleuchteten. Und auch darum, weil alle Lichtmaterien ihrem Wesen nach gleichartig sind, können die Sonne u.s.w. nicht von einer andern Lichtmaterie abhängig sein, auf deren Leuchten hin sie nachleuchteten; denn man kann z.B. nicht sagen, dass die eine Lampe | der andern Lampe nachleuchte. Wenn weiter behauptet wurde, dass ein Nachahmen nur unter gleichartigen Dingen statthabe, so ist dieses kein unbedingtes Gesetz, indem auch verschiedenartige Dinge einander nachahmen; wie z.B. eine glühende Eisenkugel dem Feuer nachahmt, indem sie dem brennenden Feuer nachbrennt; oder wie der Staub der Erde dem dahinfahrenden Winde nachfährt. Wenn unser Sûtram sagt: »wegen der Nachmachung«, so deutet es damit auf das Nachleuchten hin, während in den weitern Worten »und von seinem« auf die vierte Zeile des in Rede stehenden Verses hingewiesen wird, wo es heisst: »das Ganze hier erglänzt von seinem Lichte.« Indem diese Worte besagen, dass die Sonne u.s.w. jenes Licht als Ursache ihres Glanzes haben, so nötigen sie zu schliessen, dass dasselbe der erkenntnisartige Âtman ist. Denn von diesem sagt eine andere Schriftstelle: »ihn ehren als unsterblich Leben die Götter, als der Lichter Licht« (Bṛih 4, 4, 16.) Dass hingegen das Licht der Sonne u.s.w. durch ein anderes Licht leuchte, ist unerweislich und auch gegen die Erfahrung, nach welcher vielmehr dem einen Lichte durch das andere [z.B. dem des Mondes durch die Sonne] Abbruch gethan wird. – Oder auch man kann annehmen, dass es nicht nur die im Verse erwähnten Lichter der Sonne u.s.w. sind, von denen das durch jenes Licht bedingte Glänzen ausgesagt wird, sondern es heisst vielmehr ausnahmslos: »das Ganze hier [erglänzt von seinem Lichte]«; d.h. die Offenbarung dieser ganzen, in Namen und Gestalten zur Vergeltung der That an dem[162] Thäter entstandenen Welt wird bedingt durch das Vorhandensein des Brahmanlichtes, ähnlich wie die Offenbarung aller Gestalten durch das Vorhandensein des Sonnenlichtes bedingt wird. [Dass unter dem Lichte Brahman zu verstehen ist,] ergiebt sich auch aus dem in dem Verse: »Dort leuchtet nicht | die Sonne« gebrauchten Worte »dort«, welches anzeigt, dass man an das Vorhererwähnte zu denken hat; vorher aber war von Brahman die Rede, denn es hiess: »der Ort, in welchem Himmel, Erd' und Luftraum gewoben ist« u.s.w. (Muṇḍ. 2, 2, 5), und gleich darauf: »in gold'ner, höchster Hülle liegt staublos das Brahman ungeteilt; das ist das Reine, ist der Lichter Licht, ist was die wissen, die den Âtman kennen« (Muṇḍ. 2, 2, 9), worauf, um den hier gebrauchten Ausdruck »der Lichter Licht« zu erklären, es weiter heisst: »dort leuchtet nicht die Sonne« u.s.w. Wenn ferner noch behauptet wurde, dass die Aufhebung des Leuchtens der Lichter wie Sonne u.s.w. nur möglich sei dadurch, dass eine andere Lichtmaterie leuchte, ähnlich wie die Aufhebung des Leuchtens der übrigen Gestirne dadurch, dass die Sonne leuchte, so machten wir hingegen bereits geltend, dass jenen Effekt des »Nachleuchtens« [der Sonne u.s.w.] eine eben solche, andere Lichtmaterie nicht zu bewirken im Stande sein würde (na sambhavati.) Auf Brahman passt auch, dass das Leuchten aller jener andern Lichter [in jenem einen Lichte] aufgehoben sei: denn alles, was wahrgenommen wird, kann nur durch das Brahman als Licht wahrgenommen werden, während hingegen das Brahman durch kein anderes Licht wahrgenommen wird, weil es seiner Natur nach Selbstlicht ist, so dass die Sonne u.s.w. in ihm leuchten; denn das Brahman offenbart alles andere, | wird aber selbst durch nichts anderes offenbart; indem die Schrift sagt: »dann dienet er sich selbst als Licht« (Bṛih. 4, 3, 6) und: »er ist ungreifbar, denn er wird nicht ergriffen« (Bṛih. 4, 2, 4.)

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 161-163.
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