[188] 34. çug asya, tad-anâdara-çravaṇât tad-âdravaṇât, sûcyate hi
denn auf den Kummer desselben, weil er, ihre Missachtung vernehmend, zu ihm hinlief, wird dadurch angespielt.

Die Beschränkung des Berufenseins auf die Menschen wurde verneint, indem dargelegt wurde, dass auch die Götter u.s.w. zur Wissenschaft berufen sind. Ist nun ebenso weiter die Beschränkung des Berufenseins auf die Zwiegeborenen [die Mitglieder der drei obern Kasten, Brâhmaṇa's, Kshatriya's und Vaiçya's] zu verneinen, und eine Berufung auch der Çûdra's [der Angehörigen der vierten, untersten Kaste] anzunehmen? – Diesen Zweifel zu heben, dient das gegenwärtige Adhikaraṇam.

Angenommen also, ›auch der Çûdra sei zur Wissenschaft berufen, da die Merkmale der Bedürftigkeit und der Fähigkeit auf ihn zutreffen; daher auch, während es z.B. heisst: »der Çûdra ist zum Opfer nicht zuzulassen« (Taitt. saṃh. 7, 1, 1, 6), in entsprechender Weise | ein Verbot wie etwa: »der Çûdra ist zur Wissenschaft nicht zuzulassen«, sich in der Schrift nicht findet. Hierzu kommt, dass der Grund, welcher den Çûdra von der Berufung zu den Werken ausschliesst, nämlich seine Nichtzulässigkeit zum Opferfeuer, eine Berufung zur Wissenschaft nicht unmöglich macht; denn auch bei einem solchen, der [die heiligen Feuer] Âhavanîya u.s.w. nicht besitzt, ist es nicht unmöglich, dass er zur Wissenschaft gelangt. – Hierzu kommt ein Anzeichen, welches das Berufensein des Çûdra bestätigt. Nämlich in der Lehre vom Saṃvarga [dem Winde als dem an sich Raffer], bezeichnet die Schrift den nach der Erkenntnis begehrenden Jânaçruti, den Enkelsohn, mit dem Worte »Çûdra«, denn es heisst [in der Antwort, die ihm Raikva giebt]: »Oho! für ein Geschmeide und Gefähr, du Çûdra? Behalte sie für dich mitsamt den Kühen«[188] (Chând. 4, 2, 3.) Ebenso lehrt die Smṛiti, dass Vidura und andere, obwohl aus einem Çûdra-Schosse entsprungen, doch zu bestimmten Wissenschaften gelangt sind. Sonach folgt, dass der Çûdra zur Wissenschaft berufen ist.‹

Auf diese Annahme antworten wir wie folgt. Der Çûdra ist nicht berufen, weil er den Veda nicht lesen darf. Denn nur derjenige, welcher den Veda gelesen und den Inhalt des Veda erkannt hat, ist zu dem, was dieser Inhalt darbietet, | berufen. Der Çûdra aber darf den Veda nicht lesen, weil das Studium des Veda zur Voraussetzung das Upanayanam [die Einführung bei einem Lehrer] hat, das Upanayanam aber sich nur auf die drei [obern] Kasten erstreckt. Was aber die Bedürftigkeit betrifft, so ist diese, wo die Fähigkeit mangelt, kein zureichender Grund zur Berufung; und auch die Fähigkeit im bloss weltlichen Sinne reicht dazu noch nicht hin, indem für eine geistliche Sache eine geistliche Fähigkeit erforderlich ist. Die geistliche Fähigkeit aber ist durch die Ausschliessung des Vedastudiums mit ausgeschlossen. Was endlich den Spruch: »der Çûdra ist zum Opfer nicht zuzulassen«, betrifft, so bedeutet derselbe, weil er aus einer allgemeinen Regel [dass nur der Vedakundige zu dessen Inhalt an Werken und Lehren berufen ist] abfliesst, zugleich die Nichtzulässigkeit zum Wissen, indem die Regel allgemein [für Werke und Wissen] gilt. Wenn du endlich die Erwähnung des Wortes »Çûdra« in der Saṃvarga-Lehre für ein Anzeichen seines Berufenseins hältst, so bemerken wir, dass darin kein Anzeichen dafür liegt, weil keine Regel dabei vorkommt, denn ein Anzeichen wird bedeutsam erst durch den Ausspruch einer Regel, eine Regel aber liegt hier nicht vor. Übrigens würde | das hier vorkommende Wort Çûdra höchstens eine Berufung des Çûdra allein zu der Saṃvarga-Lehre bedeuten, weil es auf sie Bezug hat, nicht aber zu allen Lehren. Da aber das Wort dabei nur in einem Arthavâda [nicht in der Vorschrift eines Vidhi] vorkommt, so ist es vielmehr ausser Stande, die Berufung des Çûdra, wozu es auch immer sein möge, zu begründen. Hierzu kommt, dass man das Wort Çûdra an dieser Stelle so auffassen kann, dass es sich [nicht auf einen Çûdra, sondern] auf einen Berufenen bezieht. Nämlich folgendermassen. Wenn (Chând. 4, 1, 3) die Gans spricht: »wer ist denn der, von dem du redest, als wäre er ein Raikva mit dem Ziehkarren«, so empfindet Jânaçruti, der Enkelsohn, indem er die in diesem Worte der Gans liegende »Missachtung« seiner selbst vernimmt, darüber Kummer; und auf diesen Kummer (çuc) wird von dem Ṛishi Raikva durch jenes Anreden mit dem Worte çû-dra »angespielt«, indem er nämlich dadurch das ihm eigene übernatürliche Sehervermögen [welchem jenes nächtliche Zwiegespräch der Gänse schon bekannt war] bekunden will. So erklärt sich die Sache; denn ein geborener Çûdra würde unmöglich berufen sein können. Aber inwiefern wird[189] durch das Wort çû-dra auf jenen Kummer angespielt? – »Weil er«, so lautet die Antwort, »zu ihm hinlief«; d.h. weil Jânaçruti zu dem Kummer (çuc) hinlief (du-drâ-va), oder von dem Kummer überlaufen wurde, oder aus Kummer zu dem Raikva hinlief; – in dieser Weise lässt sich çû-dra hier in seiner etymologischen Bedeutung verstehen, da es in der traditionellen Bedeutung unzulässig ist. Und dass dies die richtige Etymologie ist, offenbart die Schrift in der besprochenen Erzählung.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 188-190.
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