[6] 1. atha ato brahma-jijñâsâ, iti
nunmehr daher die Brahmanforschung.

Das Wort atha (nunmehr) bedeutet hier unmittelbare Folge, nicht einen Vorsatz, da die Brahmanforschung [wörtlich: der Wunsch, Brahman zu erkennen] nicht Gegenstand eines Vorsatzes sein kann; da ferner dafür, [das Wort atha] als Segenswunsch zu fassen, im Inhalte des Satzes keine Berechtigung liegt; denn nur wo es einem schon anderweit ausgedrückten Inhalte sich anschliesst, liegt dem Worte atha das Motiv zu Grunde, dadurch, dass man es zu Gehör[6] bringt, einen Segenswunsch auszusprechen. | Hier aber, wo es sich um die Erfüllung einer vorher rege gemachten Erwartung handelt, kann es in seiner Bedeutung einer »unmittelbaren Folge« nicht entbehrt werden. Steht nun die Bedeutung »unmittelbare Folge« fest, so fragt sich: so wie die Pflicht-Forschung [die Karma-Mîmâṅsâ des Jaimini] notwendigerweise das Veda-Studium zur Voraussetzung hat, was ist in diesem Sinne die Voraussetzung der Brahmanforschung, auf die sie sich notwendigerweise bezieht? Das ist zu erklären. Die Voraussetzung des Veda-Studiums nun ist beiden gemeinsam. | Liegt also der Unterschied vielleicht darin, dass hier [bei der Brahmanforschung] eine Kenntnis der Werke vorausgesetzt wird? – Mit nichten! Denn auch vor der Pflichtforschung ist für den, welcher den Vedânta studiert hat, eine Erforschung des Brahman zulässig. Und so wie [beim Tieropfer] für die Zerstückelung des Herzens u.s.w. eine bestimmte Folge erfordert wird, indem der Gang vorgezeichnet ist, in derartiger Weise ist hier kein Gang | vorgezeichnet. Denn für die Annahme, dass sich Pflichtforschung und Brahmanforschung verhielten wie Grund und Folge, oder wie Gebot und Gebotenes, ist kein Beweis vorhanden; auch sind beide verschieden, sowohl was ihre Frucht als was den Gegenstand der Forschung betrifft. Nämlich die Erkenntnis der Pflicht bringt als Frucht Beglückung (abhyudaya) | und bezieht sich auf Observanz; die Erkenntnis des Brahman hingegen hat als Frucht das höchste Gut [niḥçreyasam, d.h. Erlösung] und bezieht sich nicht auf irgend eine weitere Observanz. Ferner: die zu erforschende Pflicht ist ein Zukünftiges, zur Zeit der Erkenntnis noch nicht Vorhandenes, welches von dem Thun des Menschen abhängig ist; hier hingegen ist das zu erforschende Brahman ein schon Vorhandenes, weil schon von Ewigkeit her Bestehendes, welches nicht von irgend einem Thun des Menschen abhängig ist. Ein weiterer Unterschied liegt in der Art, wie die Aufforderung zu beiden stattfindet. Denn die Aufforderung, wie sie ein Merkmal der Pflicht bildet, beschränkt sich darauf, innerhalb ihres Bereiches den Menschen anzutreiben, ohne dass sie ihn belehrte. Die auf das Brahman bezügliche Aufforderung hingegen will lediglich den Menschen belehren; und da es eine [blosse] Belehrung ist, welche hier aus der Aufforderung resultiert, so wird der Mensch, | bei dieser Belehrung nicht verpflichtet, sondern es verhält sich dabei ähnlich, wie wenn man sich über eine Sache dadurch belehrt, dass man sie dem Auge nahe bringt. – ›Aber da dem so ist, was sollen wir denn annehmen, als dessen unmittelbare Folge die Brahmanforschung bezeichnet wird?‹ – Wir antworten: [I.] die Unterscheidung der ewigen und der nichtewigen Substanz; [II.] Verzichtung auf einen Genuss des Lohnes seiner Bemühungen, hier und im Jenseits; [III.] Erlangung der [sechs] Mittel, Gemütsruhe, Bezähmung u.s.w. [Entsagung, geduldiges Ertragen,[7] Meditation, Glaube]; [IV.] das Verlangen nach Erlösung. Wenn diese vorhanden sind, so kann auch vor der Pflichtforschung ebenso gut wie nach ihr das Brahman erforscht und erkannt werden; nicht aber umgekehrt. Somit wird durch das Wort atha die unmittelbare Folge auf die Erlangung der erwähnten Mittel angedeutet.

Das Wort atas (daher) bezeichnet einen Grund: weil nämlich der Veda erklärt, dass das Feueropfer und die sonstigen [Werke], welche zum Glücke dienen, | eine Frucht bringen, die vergänglich ist, – denn es heisst: »darum, gleichwie hienieden die durch Werke gewonnene Welt vergeht, also auch vergeht im Jenseits die durch heiligen Wandel gewonnene Welt« u.s.w. (Chând. 8, 1, 6), weil ferner das höchste Ziel des Menschen als durch die Erkenntnis des Brahman zu erreichen bezeichnet wird durch die Worte: »wer Brahman kennt, erlangt das Höchste« u.s.w. (Taitt. 2, 1), – darum ist unmittelbar nach Erlangung der erwähnten Mittel die Brahmanforschung ins Werk zu setzen.

Die Brahmanforschung (brahma-jijñâsâ) bedeutet die Erforschung des Brahman; Brahman aber ist, wie weiterhin erklärt werden wird, dasjenige, »woraus Ursprung u.s.w. dieses [Weltalls] ist« | (Sûtram 1, 1, 2.) Darum darf man bei dem Worte Brahman nicht an eine andere Bedeutung, wie z.B. etwa an die Brahmanen-Kaste, denken. Der Genitiv »des Brahman« bedeutet eine [auf Brahman als Objekt bezügliche] Thätigkeit, nicht eine blosse Ergänzung [des Begriffs der Forschung, unbestimmt in welchem Sinne]; denn die Erforschung findet statt in Hinsicht auf ein zu Erforschendes, ein andres Objekt der Forschung aber liegt nicht vor. – ›Aber‹, könnte man sagen, ›dass das Brahman der Gegenstand der Forschung ist, wird dadurch nicht ausgeschlossen, dass man den Genitiv als den der Ergänzung ansieht; da in der Allgemeinheit der Verbindung [mit einem Genitiv, der bloss zur Ergänzung, unbestimmt in welchem Sinne, dient] die besonderen Fälle [also auch der hier erforderliche Genitivus objectivus] enthalten sind.‹ – Wenn man dies auch zugeben wollte, so würde es doch eine zwecklose Erschwerung sein, auf das deutliche Objektsein des Wortes »des Brahman« zu verzichten, um vermittelst der Allgemeinheit [und Unbestimmtheit der Genitivverbindung] ein undeutliches Objektsein desselben anzunehmen. – ›Sie ist doch nicht zwecklos, denn sie hat den Zweck, sämtliche mit dem Brahmanbegriff zusammenhängende | Untersuchungen [über seine Merkmale, die Beweismethoden, Beweisgründe, Mittel und Frucht seiner Erkenntnis] als berechtigt anzuerkennen.‹ – Das bestreiten wir, weil durch Befassung der Hauptsache auch dasjenige, was sich auf dieselbe bezieht, als Zweck schon mit einbegriffen ist. Die Hauptsache nämlich ist das Brahman, sofern seine Erlangung durch die Erkenntnis das dabei am meisten Gewünschte ausmacht. Ist nun diese Hauptsache[8] unter dem Gegenstande der Forschung befasst, so ist damit zugleich dasjenige als Zweck mit einbegriffen, ohne dessen Erforschung die Erforschung des Brahman nicht möglich ist; daher es nicht noch erst besonders erwähnt zu werden braucht; ähnlich wie durch die Worte »der König kommt« angedeutet wird, dass der König mitsamt seinem Gefolge kommt. Ebendasselbe ergiebt sich auch aus dem Zusammenhange der Schrifttexte; denn wenn es z.B. in Stellen wie: »Dasjenige, fürwahr, woraus diese Wesen entspringen« u.s.w. (Taitt. 3, 1) weiter heisst: »das erforsche, das ist das Brahman«, so beweisen diese Worte offenbar, dass Brahman der Gegenstand der Forschung ist; und dem entspricht das Sûtram, wenn man den Genitiv »des Brahman« im Sinne der Thätigkeit nimmt.

Die Forschung (jijñâsâ) bedeutet den Wunsch zu erkennen; denn das Erkennen, welches als sein Endziel das Erlangen | hat, ist der Gegenstand des dabei ausgedrückten Wunsches, indem ein Wunsch sich bezieht auf einen gewünschten Erfolg. Es wird also gewünscht, das Brahman durch die Erkenntnis als Mittel zu erlangen; denn das Erlangen des Brahman ist das Endziel des Menschen, weil durch seine Erlangung das Nichtwissen und das übrige Unheil, welches den Samen der Seelenwanderung (samsâra) bildet, völlig ausgerottet wird. Darum also ist das Brahman zu erforschen.

– ›Ist nun dieses Brahman bekannt oder unbekannt? Wenn es bekannt ist, so braucht man es nicht zu erforschen, ist es aber unbekannt, so kann man es nicht erforschen!‹ – | Auf diese Einwendung antworten wir: was zunächst das Brahman betrifft, so ist es ein seiner Natur nach ewiges, reines, weises und freies, allwissendes und mit Allmacht ausgestattetes Wesen; denn diese Eigenschaften der Ewigkeit, Reinheit u.s.w. ergeben sich, wenn man das Wort Brahman analysiert, indem man der Bedeutung der Wurzel bṛih (»ausreissen«) nachgeht. Die Existenz des Brahman aber wird daraus erwiesen, dass es das Selbst (die Seele) von allem ist; denn ein jeder nimmt die Existenz seines eignen Selbstes an, indem er nicht sagen kann: »ich bin nicht.« Würde nämlich nicht die Existenz des eignen Selbstes allgemein angenommen, so könnte alle | Welt sagen: »ich bin nicht.« Das Selbst aber ist das Brahman. – ›Aber, wenn das Brahman wirklich als das Selbst allgemein anerkannt wird, so ist es doch schon bekannt, und hieraus folgt wieder, dass es nicht erst erforscht zu werden braucht?‹ – Dem ist nicht so, weil in Bezug auf seine Merkmale Uneinigkeit besteht. So z.B. behaupten das ungebildete Volk und die Materialisten, das Selbst sei nur der mit Geistigkeit ausgestattete Leib; andre wiederum sehen das Selbst in den die Erkenntnis bewirkenden Sinnesorganen; andre in dem Manas; wieder andre in der blossen Vorstellung des jedesmaligen Augenblicks: wieder andre in dem Nichts (çûnyam); einige behaupten, es sei[9] die den Leib u.s.w. überdauernde, umwandernde, handelnde und leidende Seele; etwelche sagen, es sei nur die leidende, nicht die handelnde Seele; wieder andre, es sei der von ihr verschiedene, allwissende und allmächtige Gott (îçvara); | noch andre, es sei das [wahre] Selbst der geniessenden (individuellen) Seele. So stehen viele einander entgegen und stützen sich dabei auf Argumente und Schriftworte oder den Schein derselben. Wollte man nun unbedacht das eine oder das andre annehmen, so könnte man an seiner Seligkeit Schaden nehmen und in Unheil geraten. Darum | ist eine Vornahme der Brahmanforschung und, infolge derselben, eine Untersuchung der Vedântatexte, unterstützt durch eine ihr nicht widersprechende Reflexion, als ein Mittel zur Seligkeit zu empfehlen.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 6-10.
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