[35] 5. îkshater na, açabdam
wegen des Erwägens nicht; schriftwidrig!

Es geht nicht an, für die von den Sâ khya's als Ursache der Welt aufgestellte ungeistige Urmaterie in den Vedântaworten eine Stütze zu finden; denn dieselbe ist »schriftwidrig«; – inwiefern schriftwidrig? »wegen des Erwägens«; d.h. weil die Weltursache als einer, der erwägt, von der Schrift hingestellt wird. Wie das? Nun, weil es in ihr heisst: »Seiend nur, o Teurer, war dieses am Anfang, eines nur und ohne zweites«; und weiterhin: »dasselbige erwog: ›ich will vieles sein, will mich fortpflanzen‹; da schuf es das Feuer« (Chând. 6, 2); – diese Worte behaupten, dass die durch das Wort »dieses« bezeichnete, in Namen und Gestalten ausgebreitete Welt vor ihrem Ursprunge nur als »das Seiende«[35] vorhanden war, und zeigen, wie eben dieses in Rede Stehende und als »das Seiende« Bezeichnete nach vorhergehendem Erwägen das Feuer u.s.w. schuf. Und ebenso heisst es an einem andern Orte: »Wahrlich diese Welt war zu Anfang der Âtman allein; es war nichts andres da, die Augen aufzuschlagen. | Er erwog: ›ich will nun Welten schaffen‹; da schuf er diese Welten« (Ait. 1, 1, 1); – auch diese Worte besagen, dass der Schöpfung ein Erwägen vorangegangen sei. Und an einem andern Orte, wo die Rede ist von dem »sechzehnteiligen Geiste«, heisst es von ihm: »er erwog; da schuf er den Odem« (Praçna 6, 3.) Wenn das Sûtram sagt: »wegen des Erwägens«, so kommt es hierbei, ähnlich, wie wenn es [bei Jaimini] heisst: »wegen des Opferns«, auf den Sinn der Wurzel, nicht auf die Wurzel (îksh) selbst an. Wenn es daher heisst: »der alles kennt (jñâ) und alles weiss (vid), des Busse ganz Erkenntnis ist, aus diesem ist Brahman [Hiranyagarbha] entstanden, Name, Gestalt und Nahrungskeim« (Muṇḍ. 1, 1, 9), so kann man auch Worte wie diese, welche sich auf den allwissenden Gott als die Ursache beziehen, zum Belege [des Sûtram] anführen.

Wenn hingegen behauptet wurde, dass auch die Urmaterie, vermöge des Wissens als einer Beschaffenheit des Sattvam, für allwissend gelten könne, so geht dies nicht an; denn in dem Zustande als Urmaterie besteht, vermöge des [in ihm herrschenden] Gleichgewichts der [drei] Guṇa's [Sattvam, Rajas und Tamas] das Wissen als eine Beschaffenheit des Sattvam noch nicht. – ›Aber wir sagten doch, dass dieselbe vermöge der Fähigkeit, alles zu wissen, für allwissend gelten könne?‹ – Auch das geht nicht an. Denn will man der Urmaterie, auf Grund der im Gleichgewichtsstande der Guṇa's dem Sattvam einwohnenden Fähigkeit des Wissens, eine Allwissenheit beilegen, nun, | so muss man ihr auch, auf Grund der dem Rajas und Tamas einwohnenden Fähigkeit, das Wissen zu hemmen, zugleich ein eingeschränktes Wissen beilegen. Hierzu kommt, dass die blosse Funktion des Sattvam, ohne dass ihm ein [Purusha als] Zuschauer (sâkshin) zur Seite stünde, noch kein Wissen genannt werden kann. Die Urmaterie aber kann, weil ungeistig, nicht den Zuschauer dabei bilden. Folglich ist eine Allwissenheit der Urmaterie unmöglich. Bei den Yogin's hingegen ist, weil sie geistig sind, eine Allwissenheit, soweit sie in einem alles überragenden Grade [des Wissens] besteht, möglich, daher man sich auf sie dabei nicht berufen darf. Oder wollt ihr, dass das »Erwägen« der Urmaterie durch einen [ihr einwohnenden Purusha als] Zuschauer bedingt sei, ähnlich wie z.B. das Brennen der Eisenkugel durch das [sie durchglühende] Feuer bedingt ist? In diesem Falle ist die Sache in Ordnung; denn eben jenes [der Urmaterie als Zuschauer einwohnende Princip], worauf das »Erwägen« derselben beruht, das ist das, im eigentlichen Sinne des Worts, allwissende Brahman als Ursache der Welt.[36]

Wenn hingegen behauptet wurde, dass auch dem Brahman eine Allwissenheit im eigentlichen Sinne nicht beigelegt werden könne, weil bei einer fortwährenden Bethätigung des Erkennens die Freiheit hinsichtlich der Thätigkeit des Erkennens aufgehoben werde, so wollen wir darauf antworten. Vorher aber müssen wir den geehrten Gegner fragen, ob er wohl behaupten kann, dass auch bei Annahme einer fortwährenden Bethätigung des Erkennens der Allwissenheit nicht [im strengsten Sinne] Genüge geleistet werde? Was nämlich die Auffassung derselben als ein fortwährendes Wissen betrifft, sofern dasselbe [bloss potentiell] im Stande ist, alle Objekte zu beleuchten, so steht diese mit dem Begriff eines Allwissenden in Widerspruch. Denn da sie kein [wirklich] fortwährendes Wissen ist, sofern sie manchmal erkennt und manchmal wieder nicht, so ist selbst sie noch keine [wahre] Allwissenheit. Dieser Fehler fällt weg, wenn man [mit uns] eine ununterbrochene Fortdauer des [aktuellen] Erkennens annimmt. – ›Aber bei einer solchen ununterbrochenen Fortdauer des Erkennens lässt sich doch nicht die Freiheit [des Brahman] hinsichtlich des Erkennens aufrecht halten!‹ – Das bestreiten wir, denn auch bei der wärmenden und leuchtenden Sonne lässt sich, obwohl sie ohne Unterlass wärmt und leuchtet, doch von einer Freiheit derselben hinsichtlich dieser Wirkungen reden. – ›Aber die Sonne wärmt und leuchtet doch nur darum, weil ein zu erwärmendes und zu erleuchtendes Objekt mit ihr verbunden ist; | für das Brahman hingegen besteht vor der Weltschöpfung keine solche Verbindung mit einem Werke [d.h. Gegenstand] des Erkennens; daher der Vergleich nicht passt.‹ – Wenn auch kein Werk [zu beleuchtender Gegenstand] vorhanden ist, so kann man doch sagen, die Sonne leuchte, und ihr somit ein Thätersein beilegen. Ebenso geht es an, dass dem Brahman, selbst wenn kein Werk seines Erkennens vorhanden sein sollte, durch die Worte: »dasselbige erwog«, ein Thätersein beigelegt wird; daher der Vergleich nicht unpassend ist. Nun sind aber jene Schriftstellen, die von einem Erwägen des Brahman reden, um so mehr angemessen, als sie wirklich ein Werk des Brahman dabei im Auge haben. – ›Aber was könnte das wohl für ein Werk sein, welches vor der Weltschöpfung für das Erkennen Gottes ein Objekt bilden könnte?‹ – Wir antworten: es sind die weder als seiend noch als nicht-seiend definierbaren, noch nicht entfalteten, zur Entfaltung drängenden Namen und Gestalten [der Sinnenwelt]. Denn dasjenige, durch dessen Gnade, wie die Anhänger des Yoga-Systems annehmen, auch die Yogin's ein anschauliches Wissen von Vergangenem und Zukünftigem haben, um wie viel mehr muss diesem, nämlich dem ewigen reinen Gotte, ein auf Ursprung, Bestand und Vergang der Welt bezügliches, unaufhörliches Wissen zugeschrieben werden![37]

Wenn weiter behauptet wurde, dass vor der Weltschöpfung dem Brahman, ohne dass es mit einem Leibe u.s.w. behaftet wäre, ein Erwägen nicht möglich sei, so hält auch das nicht gegen das Vorbemerkte Stand. | Denn wie der Sonne das Leuchten, so kommt dem Brahman als ewige Wesensbeschaffenheit das Erkennen zu, daher es keiner Organe des Erkennens bedarf. Ja, bei der im Nichtwissen befangenen, wandernden Seele mag das Entstehen einer Erkenntnis durch den Leib u.s.w. bedingt sein, nicht aber bei Gott, für welchen eine Ursache der Hemmung des Wissens nicht besteht. Und dass Gott keines Leibes u.s.w. bedarf, und dass sein Erkennen ohne jedes Hemmnis vor sich geht, das bezeugen auch folgende beiden Schriftverse (Çvet. 6, 8 und 3, 19):


»An ihm ist keine Wirkung, kein Organ;

Nicht ist ihm jemand gleich noch überlegen.

Sein höchstes Können geht nach allen Seiten,

Ureigen ist ihm Wissen, Kraft und Wirken.«


»Ohn' Hände greift er, ohne Füsse läuft er,

Schaut ohne Augen und hört ohne Ohren;

Er weiss was wissbar, aber ihn weiss Niemand,

Er heisst der grosse Geist, der allerhöchste.«


| – ›Aber es giebt ja doch gar keine, eine Ursache der Hemmung des Wissens in sich enthaltende und von Gott verschiedene, wandernde Seele; denn die Schrift sagt: »nicht giebt es ausser ihm einen Sehenden, ... nicht giebt es ausser ihm einen Erkennenden« (Bṛih. 3, 7, 23); was soll es also heissen, wenn behauptet wurde, dass bei der wandernden Seele das Entstehen des Wissens an die Bedingung eines Leibes u.s.w. geknüpft sei, bei Gott hingegen nicht?‹ – Darauf antworten wir: allerdings giebt es keine von Gott verschiedene, wandernde Seele; gleichwohl aber nimmt man die Verbindung [des Âtman] mit den Upâdhi's (Bestimmungen) des aus Leib u.s.w. bestehenden Aggregates an, ähnlich wie die Verbindung des Raumes mit den Upâdhi's von Töpfen, Krügen, Berghöhlen u.s.w.; und durch sie zeigt sich der Sprachgebrauch des gemeinen Lebens nach Wort und Vorstellung bedingt, indem man von einer Höhlung des Topfes, des Kruges u.s.w. redet, wiewohl dieselben unabhängig vom Weltraum gar nicht bestehen; und hierdurch veranlasst kommt auch die falsche Erkenntnis zum Vorschein, als gebe es in dem Weltraume einen von ihm verschiedenen Raum innerhalb des Topfes. Ganz ebenso steht es auch im vorliegenden Falle mit der falschen Erkenntnis, als gebe es eine von Gott verschiedene, wandernde Seele, und dieser Irrtum wird bewirkt dadurch, dass man [den Âtman] von seiner Verbindung mit den Upâdhi's des Aggregates von Leib u.s.w. nicht unterscheidet. Und so gewinnt es den Anschein, als wenn[38] das Seiende, nämlich das Selbst, in das Aggregat von Leib u.s.w., welche nicht das Selbst sind, mit seiner Selbstheit eingegangen wäre, | und zwar nur infolge einer jedesmal [bei jeder neuen Verkörperung] als Voraussetzung vorhergegangenen falschen Erkenntnis. Steht aber einmal in dieser Weise das Wanderersein [der Seele] als Voraussetzung fest, so ist als eine weitere Folgerung berechtigt, dass das Erkenner-sein dieser wandernden Seele durch den Leib u.s.w. bedingt ist.

Wenn endlich noch gesagt wurde, dass man wohl die aus vielerlei zusammengesetzte Urmaterie als Weltursache annehmen könne, so wie den [aus vielen Teilen bestehenden] Thon [als Ursache der Gefässe], nicht aber das unzusammengesetzte Brahman, so ist diese Einwendung damit schon beantwortet, dass eine Urmaterie schriftwidrig ist. Dass man aber auch durch die blosse Reflexion das Brahman, nicht aber die Urmaterie und dergleichen, als Weltursache erweisen kann, das wird der Autor weiter unten ausführen, von der Stelle an, wo es heisst: »nein! wegen Wesensverschiedenheit von dieser [Welt]« u.s.w. (Sûtram 2, 1, 4.)


– Hier könnte man einwenden: ›Wenn gesagt wurde, dass die ungeistige Urmaterie nicht Ursache der Welt sein könne, weil die Schrift von einem »Erwägen« rede, so lässt sich das auch anders auffassen. Denn auch ein Ungeistiges wird in bildlichem Sinne als ein Geistiges vorgestellt, etwa wie man mit Bezug auf den bevorstehenden Einsturz eines Ufers sagt: »das Ufer will einstürzen«; hier wird das, wiewohl ungeistige, Ufer in bildlichem Sinne als ein geistiges vorgestellt. Ebenso kann die, wiewohl ungeistige, Urmaterie, indem die Schöpfung aus derselben bevorsteht, in bildlichem Sinne als ein Geistiges vorgestellt und von ihr gesagt werden, dieselbige »erwog« (Chând. 6, 2, 3.) Wie nämlich im Leben ein Mensch, der ein geistiger ist, nachdem er gebadet und gegessen hat, erwägt: »den Nachmittag will ich ins Dorf fahren«, und sodann dem entsprechend als Determinierter handelt, | ebenso handelt auch die Urmaterie, indem sie in die Gestalten des Mahad u.s.w. eingeht, als Determinierte, und wird daher in bildlichem Sinne als ein Geistiges aufgefasst.‹ – Aber mit welchem Rechte verlässt man den eigentlichen Sinn des Erwägens und nimmt den bildlichen an? – ›Deswegen weil, wenn es weiter heisst: »dieses Feuer erwog«, »dieses Wasser erwog« (Chând. 6, 2, 3. 4), auch Wasser und Feuer, wiewohl sie doch ungeistig sind, in bildlichem Sinne als ein Geistiges aufgefasst werden. Darum muss man auch da, wo von der Thätigkeit des Seienden die Rede ist, das Erwägen in bildlichem Sinne auffassen, weil doch einmal alles Reden [der Schrift] vorwiegend in Bildern sich bewegt.‹ –

Gegen diese Behauptung ist das folgende Sûtram gerichtet:

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 35-39.
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