[66] 23. ata' eva prānah
aus eben dem Grunde der Prāna (Odem, Leben.)

Bei der Besprechung des Udgītha heisst es: »die Gottheit, o Preisrufer, auf welche sich der Preisruf bezieht«, – und weiter: »Welches ist diese Gottheit? – Der Prāna, so antwortete er; denn alle diese Wesen (bhūta) gehen ein in den Prāna und aus dem Prāna [wörtlich: in Bezug auf den Prāna] entspringen sie; dieses ist die Gottheit, auf welche sich der Preisruf bezieht« (Chānd. 1, 10, 8 – 1, 11, 5.) Hier sind Frage und Klarstellung ebenso wie im Vorigen zu behandeln. Nämlich in Stellen wie: »denn das Leben (prāṇa) ist die Bindungsstätte des Manas« (Chānd. 6, 8, 2) oder »des Odems (prāna) Odem« (Bṛih. 4, 4, 18), wird | das Wort »Prāna« von Brahman gebraucht; hingegen bedeutet es gewöhnlicher im Leben und im Veda eine Abart des Windes; daher die Frage sich erhebt, welches von beiden hier unter dem Worte Prāna zu verstehen ist. Was ist also hier das Richtige?[66]

Man könnte sagen: ›das Richtige ist hier, unter Prāna den eine Abart des Windes bildenden, in fünf Funktionen [als Prāna, Apāna, Vyāna, Samāna, Udāna] sich bethätigenden Lebensodem zu verstehen; denn in dieser Bedeutung wird das Wort Prāna, wie bereits bemerkt, am gewöhnlichsten gebraucht.‹ – Aber muss man nicht hier ebenso wie im vorigen [Adhikaraṇam] das Brahman verstehen, »weil seine Merkmale« vorkommen? Denn auch hier kommt doch im Verlaufe der Stelle das Eingehenlassen und Hervorgehenlassen der Wesen vor, welches als die Sache des höchsten Gottes anzusehen ist. – ›Dem ist nicht so, weil Eingehen und Hervorgehen der Wesen auch in Bezug auf den Mukhya Prāna (Hauptlebensodem) von der Schrift gelehrt wird. Denn in diesem Sinne heisst es: »wahrlich, wenn der Mensch schläft, dann gehet in das Leben ein die Rede, in das Leben das Auge, in das Leben das Ohr, in das Leben das Manas; wenn er aufwacht, so werden sie aus dem Leben wiederum geboren« (Ēatapatha-brāhmanam 10, 3, 3, 6.) Und das ist ja auch durch blosse Wahrnehmung zu erkennen, dass zur Zeit des Schlafes die Funktion des Prāna nicht unterbrochen wird, während die Funktionen der Sinnesorgane unterbrochen werden und erst zur Zeit des Erwachens wieder in die Erscheinung treten. Und auch darum, weil die Sinnesorgane [Gehör, Gefühl, Gesicht, Geschmack, Geruch] den eigentlichen Kern der Wesen [bhūta, hier »der Elemente«: Äther, Luft, Feuer, Wasser, Erde] bilden, lässt sich das im Verlaufe der Stelle vorkommende Eingehen und Hervorgehen der Elemente (bhūta) auch von dem Mukhya Prāna ohne Widerspruch verstehen. Hierzu kommt, dass an unserer Stelle (Chānd. 1, 11, 6-9) sofort nach Erwähnung des Prāna als der Gottheit des Prastāva (Vorgesanges) die Sonne und die Nahrung als die Gottheiten des Udgītha (Hauptgesanges) und Pratihāra (Zwischengesanges) | genannt werden; diese aber können nicht das Brahman sein, und wegen der Analogie mit ihnen kann auch der Prāna nicht das Brahman sein.‹ –

Auf diese Behauptung erwidert der Verfasser der Sūtra's: »aus eben dem Grunde der Prāna«; nämlich, wie es im vorhergehenden Sūtram hiess: »wegen seiner Merkmale«. Aus diesem Grunde, weil auch hier wieder seine Merkmale vorkommen, muss das höchste Brahman auch unter dem Worte »Prāṇa« verstanden werden, indem auch dem Prāna hier von der Schrift Merkmale beigelegt werden, welche dem Brahman angehören; nämlich es heisst: »denn alle diese Wesen gehen ein in den Prāṇa, und aus dem Prāṇa entspringen sie« (Chānd. 1, 11, 5); wenn hier für den Ursprung und Untergang aller Wesen als Ursache der Prāṇa angegeben wird, so beweist dies, dass der Prāna das Brahman sein muss. – ›Aber wir sagten doch, dass, auch wenn man unter dem Prāna den Mukhya Prāṇa verstehe, das Eingehen und Hervorgehen[67] der Wesen ohne Widerspruch bestehen könne, indem wir dabei auf die Erscheinungen des Einschlafens und Erwachens hinwiesen.‹ – Darauf dient zur Antwort: beim Einschlafen und Erwachen sind es nur die Sinnesorgane allein, welche in den Prāṇa eingehen und wieder aus ihm hervorgehen; an unserer Stelle hingegen redet die Schrift nicht nur von allen Sinnesorganen, sondern von allen Wesen mitsamt ihren Leibern und den in sie eingegangenen individuellen Seelen, wenn sie sagt: »alle diese Wesen (bhūta.)« Und selbst wenn man hier unter den Wesen (bhūta) nur die [fünf] Elemente (mahābhūta) verstehen will, so bleibt auch dann wahr, dass dem Prāna Merkmale beigelegt werden, welche nur dem Brahman eigen sind. – ›Aber lehrt nicht die Schrift, dass die Sinnesorgane mitsamt den Sinnendingen beim Einschlafen und Erwachen in den Prāṇa ein- und aus ihm wieder hervorgehen; denn es heisst doch: »wenn einer so eingeschlafen ist, dass er kein Traumbild | schaut, so ist er eins geworden in jenem Prāṇa; dann gehet in ihn ein die Rede mitsamt allen Namen, [das Auge mitsamt allen Gestalten, das Ohr mitsamt allen Tönen]« u.s.w. (Kaush. 3, 3)?‹ – Auch an dieser Stelle ist es, weil seine Merkmale vorkommen, Brahman allein, welches unter dem Prāna verstanden werden kann. Wenn aber weiter behauptet wurde, dass das Wort Prāṇa nicht Brahman bedeuten könne, weil daneben die Nahrung und die Sonne erwähnt würden, so ist das ungereimt; denn wenn einmal aus dem Zusammenhange die Beziehung des Wortes Prāṇa auf das Brahman festgestellt worden ist, so thut es gar nichts zur Sache, was ausserdem noch daneben erwähnt wird. Wenn ferner geltend gemacht wurde, dass das Wort »Prāṇa« am gewöhnlichsten den fünffachen Lebenshauch bedeutet, so ist dieser Punkt ganz ebenso zu behandeln wie es bei dem Worte »Äther« [im vorigen Adhikaraṇam] geschah. Somit steht fest, dass der als die Gottheit des Prastāva erwähnte Prāna (Chānd. 1, 11, 5) das Brahman bedeutet.

Einige wollen dieses Sūtram beziehen auf die Stellen »des Odems Odem« (prāṇasya prānah, Brih. 4, 4, 18) und: »das Leben (prāṇa) ist die Bindungsstätte des Manas« (Chānd. 6, 8, 2); aber beides ist unpassend, weil an diesen Stellen, wegen des Zweimalstehens des Wortes [prānasya prānah] und wegen des in Rede stehenden Thema's ein Zweifel [darüber, dass Brahman gemeint ist] nicht obwalten kann. Denn wie in dem Ausdrucke »der Vater des Vaters« ein anderer der im Genitiv stehende Vater, und ein anderer der im Nominativ stehende Vater des Vaters sein muss, ebenso ist in dem Ausdrucke »der Odem des Odems«, wegen des Zweimalstehens, der »Odem des Odems« offenbar ein anderer als der gewöhnliche Odem. Denn eine und dieselbe Sache kann nicht nebeneinander als Nominativ und Genitiv von sich selbst unterschieden werden. Und ebenso versteht es sich [betreffs[68] der zweiten Stelle, Chānd. 6, 8, 2] von selbst, dass, wenn von einer Sache als Thema die Rede ist, und sie dabei einmal unter anderm Namen vorkommt, eben jene in Rede stehende Sache verstanden werden muss. Denn wenn z.B. vom Lichtopfer die Rede ist, und es heisst dabei: »mit jedem neuen Frühling soll man das Licht darbringen«, so bedeutet hier das Wort »Licht« dasselbe wie »Lichtopfer«. Ebenso steht es, wenn von dem höchsten Brahman als Thema die Rede ist, und es heisst dabei: »denn das Leben (prāna) ist die Bindungsstätte | des Manas« (Chānd. 6, 8, 2); hier ist ja nicht daran zu denken, dass das Wort »Leben« (prāṇa) eine blosse Abart des Windes bedeuten könne. Weil somit bei diesen Stellen kein Zweifel obwalten kann, so ist die Heranziehung derselben [zum gegenwärtigen Sūtram] unpassend. Was hingegen den (Chānd. 1, 11, 5) als Gottheit des Prastāva erwähnten Prāṇa betrifft, so haben wir die Frage, die gegnerische und die endgültige Meinung darüber durchgegangen.

Quelle:
Die Sūtra's des Vedānta oder die Ēārīraka-Mīmāṅsā des Bādarāyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 66-69.
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