[221] 10. kalpanā-upadeēāc ca, madhu-ādivad, avirodhaḥ
auch ist, weil es eine Bezeichnung durch ein Bild ist, so wie bei dem Honig u.s.w., kein Widerspruch.

Der Ausdruck ajā steht hier nicht in dem Sinne, dass es sich um die Gestalt einer Ziege handelt; ebenso wenig aber ist er etymologisch [als »die Ungeborene«] zu verstehen; sondern es ist »eine Bezeichnung durch ein Bild«, d.h. es wird hier die bildliche Vorstellung einer Ziege gebraucht, um dadurch die durch Glut, Wasser und Nahrung gekennzeichnete Urmutter der beweglichen und unbeweglichen [organischen Wesen] zu bezeichnen. Gleichwie es nämlich im Leben wohl vorkommen mag, dass irgend eine Ziege, welche rote, weisse und schwarze Farbe an sich trägt, viele Zicklein wirft und auch solche Zicklein, die ihr gleichgestaltet (lies: sarūpa°) sind, und wie der eine Bock diese Ziege »in Liebesbrunst bespringt«, ein anderer Bock aber sie, die [bis dahin seinen Umgang] genossen hatte, »verlässt«, ebenso gebiert auch die hier gemeinte, durch Glut, Wasser und Nahrung gekennzeichnete, dreifarbige Urmutter der Wesen aus sich heraus viele, ihr gleichgestaltete, sowohl beweglich als unbeweglich [als Tiere und Pflanzen] geartete Umwandlungen, und diese wird von dem im Nichtwissen befangenen Kshetrajńa (der individuellen Seele) genossen, von dem Wissenden hingegen verlassen. Man denke aber nicht, weil der eine Kshetrajńa sie hege und der andere sie verlasse, dass darum in Wirklichkeit eine Vielheit der Kshetrajńa's, wie sie von den Gegnern angenommen wird, sich ergeben müsse. Denn unsere Stelle beabsichtigt keineswegs, eine Vielheit von Kshetrajńa's zu lehren, | sondern nur, den Gegensatz der Gebundenheit und der Erlösung zu veranschaulichen. Diesen Gegensatz[221] zwischen Gebundenheit und Erlösung legt sie dar, indem sie der gemeinen Anschauung von einer Vielheit der Seelen sich anschliesst; diese Vielheit aber beruht nur auf den Upādhi's, ist die Folge einer irrigen Erkenntnis und nicht im höchsten Sinne als real zu betrachten, indem die Schrift z.B. sagt (Ēvet. 6, 11):


»Der eine Gott, versteckt in allen Wesen,

Durchdringend alle, aller innere Seele.«


Es ist dies »sowie bei dem Honig u.s.w.«; d.h. so wie die Sonne, die doch kein Honig ist, als Honig bezeichnet wird (Chānd. 3, 1), und die Rede, welche keine Milchkuh ist, als Milchkuh (Bṛih. 5, 8), und die Himmelswelt u.s.w., welche keine Feuer sind, als Feuer (Bṛih. 6, 2, 9), in ähnlicher Weise wird auch hier dasjenige, was keine Ziege ist, als eine Ziege bezeichnet. Somit liegt »kein Widerspruch« darin, dass von Glut, Wasser und Nahrung hier das Wort ajā, Ziege, gebraucht wird.

Quelle:
Die Sūtra's des Vedānta oder die Ēārīraka-Mīmāṅsā des Bādarāyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 221-222.
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