[707] 15. anârabdha-kârye eva tu pûrve, tad-avadheḥ
die frühern [guten und bösen Werke werden vernichtet] jedoch nur, soweit die Wirkung noch nicht begonnen hat; weil jenes [das Dahinfallen des Leibes] der Termin.

In den beiden vorhergehenden Adhikaraṇa's wurde festgestellt, dass durch die Erkenntnis die guten wie die bösen Werke zunichte werden. Bezieht sich nun dieses ohne Unterschied auf solche Werke,[707] deren Frucht schon begonnen, und solche, deren Frucht noch nicht begonnen hat, oder bezieht es sich speciell nur auf diejenigen Werke, deren Frucht noch nicht begonnen hat? das ist jetzt die Frage. – Man könnte denken, ›weil es heisst: »er überwältigt beide« (Bṛih. 4, 4, 22), dass hier ohne Unterschied gesprochen werde, somit die Vernichtung ohne Ausnahme stattfinde.‹ – Dem entgegnet der Lehrer: »jedoch nur, soweit die Wirkung noch nicht begonnen hat«; d.h. nur diejenigen frühern Werke, mögen sie nun in einer vormaligen Geburt oder in der gegenwärtigen Geburt vor Eintritt der Erkenntnis aufgehäuft werden, und mögen sie gut oder böse sein, – deren Frucht noch nicht angebrochen ist, werden durch Erlangung der Erkenntnis zunichte, nicht aber diejenigen Werke, deren Wirkung bereits begonnen, und deren Frucht halb schon genossen ist, auf Grund deren eben die gegenwärtige, der Brahmanerkenntnis als Grundlage dienende Geburt gezimmert war. Warum dieses? weil in den Worten »diesem werde ich so lange angehören, bis ich erlöst sein werde« (Chând. 6, 14, 2) das Dahinfallen des Leibes als Termin bestimmt wird für den Eingang in die Ruhe. Denn im andern Falle, wenn durch die Erkenntnis die Werke samt und sonders zunichte würden, wäre für ein Fortbestehen kein Grund vorhanden, und man würde sofort mit Erlangung der Erkenntnis in die Ruhe eingehen, die Schrift aber würde nicht davon reden, dass der Hinfall des Leibes abzuwarten sei. – ›Aber jenes die Werke vernichtende Bewusstsein, dass man der nichthandelnde Âtman sei, wird doch bewirkt durch das Objekt dieser Erkenntnis; wie kommt es daher, dass dabei die einen Werke vernichtet werden, und die andern unbetroffen bleiben? Denn wenn man die Samenkörner gleichmässig der Feuerhitze aussetzt, so kann doch nicht die Keimkraft bei den einen vernichtet werden und bei den andern nicht.‹ – | Wir erwidern: das Entstehen der Erkenntnis kann nicht erfolgen, ohne sich auf einen Werkkomplex, dessen Wirkung bereits begonnen hat, zu stützen. Indem es sich nun aber auf diesen stützt, und, ähnlich wie bei der im Schwunge begriffenen Töpferscheibe, kein Grund für eine Hemmung mitten im Laufe vorliegt, so muss man den Verbrauch der Schwungkraft abwarten. – Das Bewusstsein, der nichthandelnde Âtman zu sein, vernichtet die Werke durch Aufhebung der falschen Erkenntnis; wenn aber auch die falsche Erkenntnis aufgehoben ist, so besteht sie doch, ähnlich wie der Schein, als wenn es zwei Monde gebe [für den Augenkranken], um der Läuterung (saṃskâra) willen noch eine Zeit lang fort. Übrigens ist darüber gar nicht zu rechten, ob für den Brahmanwisser der Leib noch eine Zeit lang besteht oder nicht. Denn wenn einer sich in seines Herzens Überzeugung als das Brahman fühlt, so lässt sich, wenn auch sein Leib noch fortbesteht, doch nicht von Seiten eines andern ein Einwurf dagegen erheben. Eben dieses wird in Schrift und Smṛiti ausgesprochen,[708] da wo sie die Merkmale des in der Erkenntnis Festen angeben (vgl. Bhag. G. 2, 55. Bṛih. 4, 4, 22.) Somit ist unanfechtbar, dass nur diejenigen guten und bösen Werke, deren Wirkung noch nicht begonnen hat, durch die Kraft der Erkenntnis zunichte werden.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 707-709.
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