[694] 5. brahma-dṛishṭir, utkarshât
Anschauung als Brahman, wegen der Erhöhung.

Bei eben diesen Citaten erhebt sich noch eine andere Frage, ob nämlich dabei das Brahman als die Sonne u.s.w. angeschaut wird, oder ob die Sonne u.s.w. als das Brahman angeschaut werden. Woher die Frage? weil aus der Koordination der Satzglieder kein sicherer Entscheidungsgrund sich dafür [welches das Subjekt des Satzes sei] ergiebt. Nämlich das Wort Brahman wird dabei den Worten Sonne u.s.w. | koordiniert; es heisst: »die Sonne ist das Brahman« (Chând. 3, 19, 1), »der Prâṇa ist das Brahman« (Kaush. 2, 2), »der Blitz ist das Brahman« (Bṛih. 5, 7, 1), wobei beide Satzglieder im gleichen Kasus stehen. Es ist aber dabei nicht eine strenge[694] Koordination [durch Identität] annehmbar, weil z.B. die Worte Brahman und Sonne dem Sinne nach verschieden sind; denn man kann doch nicht mit [Identitäts-]Koordination sagen, der Ochse ist ein Pferd. – ›Aber lässt sich nicht die [Identitäts-]Koordination daraus verstehen, dass z.B. Brahman und die Sonne sich, ähnlich wie der Thon und das Gefäss, zu einander verhalten als Urstoff und Umgewandeltes?‹ – Wir antworten: nein! denn in dieser Weise würde aus der Gleichsetzung mit dem Urstoffe eine Aufhebung der Umwandlung sich ergeben und mithin, wie wir zeigten (p. 1062, 1), eine Unmöglichkeit des Sinnbildes; auch hätten wir es dann zu thun mit einem Ausspruche über den höchsten [attributlosen] Âtman, womit der Charakter der Stelle als eine blosse Vorschrift der Verehrung in Widerspruch stehen würde, ganz abgesehen davon, dass [in der höheren Wissenschaft] die Herbeiziehung einer solchen begrenzten Umwandlung zwecklos sein würde. Man muss folglich ähnlich wie in solchen Sätzen wie: »der Brahmane ist das allverbreitete Feuer« (vgl. Kâṭh. 1, 7) annehmen, dass hierbei eine bildliche Anschauung des einen als das andere vorliegt, und somit fragt sich weiter, welches von beiden in dem andern bildlich angeschaut werden soll. Hierbei könnte man annehmen, ›dass die Sache unbestimmt sei, weil kein Kanon, sie näher zu bestimmen, vorhanden ist‹; – oder man könnte annehmen, ›dass das Brahman bildlich angeschaut werden solle als die Sonne u.s.w.; denn dann würde durch die Anschauung desselben als die Sonne u.s.w. [eine Verehrung des Brahman statthaben]; die Verehrung des Brahman aber ist es ja, welche nach der Bestimmung des Kanon die Frucht bringt. Somit ist hier keine Anschauung der Sonne u.s.w. als das Brahman anzunehmen.‹ – Auf diese Annahme erwidern wir: es liegt vielmehr eine Anschauung der Sonne u.s.w. als das Brahman vor; warum? »wegen der Erhöhung«; nämlich in diesem Falle werden die Sonne u.s.w. in einer Erhöhung angeschaut, indem die Anschauung als ein Höheres auf sie übertragen wird; | und so wird der Erfahrungsregel entsprochen, nach der, wie die Regel lautet, die Anschauung als Höheres einem Niederen beizulegen ist, wie z.B. dem Truchsess die Anschauung als König. Dies muss hier gelten, weil im Gegenfalle eine Herabsetzung statthaben würde; denn wenn man den König als den Truchsess anschauen wollte, so würde er eine Erniedrigung erleiden, und das wäre nicht gut. – ›Aber hier, wo der Schriftkanon Autorität ist, darf doch an die Möglichkeit einer Herabsetzung nicht gedacht werden; auch lässt sich eine Anschauung der Schrift nicht nach weltlichen Regeln meistern!‹ – Wir erwidern: das wäre richtig, wenn der Schriftsinn feststände; da er aber zweifelhaft ist, so ist es nicht unstatthaft, behufs seiner Feststellung zu einer Erfahrungsregel zu greifen. Da nun der Schriftsinn sich dahin feststellen lässt, dass die Anschauung als ein Höheres beigelegt werde, so[695] wäre allerdings folgerecht eine Herabsetzung darin zu finden, wenn die Anschauung als ein Niedrigeres beigelegt würde. Auch darum, weil die Worte Sonne u.s.w. voranstehen, muss man sie unweigerlich im eigentlichen [nicht in figürlichem] Sinne nehmen. Nachdem aber die Erkenntnis durch diese voranstehenden Begriffe auf die ihnen eigentümliche Sphäre geführt worden ist, kann das nachher eingeführte Brahman ihnen unmöglich in seinem eigentlichen Sinne koordiniert werden, und so stellt sich als allein möglicher Zweck heraus, dass die Anschauung als Brahman anbefohlen wird. Dieser Zweck ist auch darum der richtige, weil das Wort Brahman von der Partikel iti (so, als) begleitet wird; denn es heisst »als das Brahman (brahma, iti) ist seine Unterweisung«, »als das Brahman soll man es verehren«, »als das Brahman verehrt man es«; so wird überall das Brahman von einem »als« begleitet, während die Worte Sonne u.s.w. davon entblösst sind. Wie daher in dem Ausdrucke »er fasst das Perlmutter als Silber (rajatam, iti) auf«, das Wort Perlmutter | wirkliches Perlmutter bedeutet, das Wort Silber hingegen nur den Sinn hat, dass etwas als Silber aufgefasst werde, sofern der Betreffende es nur als Silber (rajatam iti) ansieht, während dabei kein Silber vorhanden ist, – ebenso ist anzunehmen, dass auch an unserer Stelle die Sonne u.s.w. als Brahman (brahma, iti) aufgefasst werden. Auch das Weitere, wo die Sonne u.s.w. im Accusativ stehen, beweist, dass eben sie es sind, auf welche sich die Thätigkeit des Verehrens erstreckt, wenn es heisst: »wer, dieses also wissend, die Sonne als das Brahman verehrt« (Chând. 3, 19, 4); – »wer die Rede als das Brahman verehrt« (Chând. 7, 2, 2); – »wer die Vorstellung als das Brahman verehrt« (Chând. 7, 4, 3.) Wenn aber behauptet wurde, dass nur eine Verehrung des Brahman hier anbefohlen sein könne, wenn ein Lohn erfolgen solle (p. 1063, 13), so ist das unrichtig, weil man nach dem aufgestellten Grundsatze ersieht, dass die Sonne u.s.w. hier verehrt werden sollen. Ein Lohn aber kann sich ebensowohl wie an die Verehrung der Gäste u.s.w. auch an die der Sonne u.s.w. knüpfen, indem eben Brahman als der Aufseher des Weltganzen ihn verleiht, wie dies gezeigt wurde an der Stelle: »die Frucht von ihm wegen der Möglichkeit« (Sûtram 3, 2, 38.) In so fern aber wird auch hier das Brahman verehrt, als die Anschauung als Brahman auf die Sinnbilder übertragen wird, so wie auf die Abbilder u.s.w. die des Vishṇu u.s.w.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 694-696.
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