[691] 3. âtmâ, iti tu upagacchanti grâhayanti ca
als den Âtman (das Selbst) vielmehr erkennen sie ihn an und lehren ihn kennen.

Den höchsten Âtman, wie er von der Schrift charakterisiert wird, habe ich den als mein eigenes Ich oder als ein von mir Verschiedenes aufzufassen? das ist zu untersuchen. Aber wie kann hier ein Zweifel bestehen, da die Schrift ihn doch durch das Wort »Âtman« bezeichnet, welches das innere Selbst bedeutet? Wir antworten: das Wort »Âtman« kann entweder im eigentlichen Sinne genommen werden, falls zwischen der individuellen Seele und Gott eine Verschiedenheit nicht bestehen sollte, oder aber es ist im entgegengesetzten Falle uneigentlich zu fassen, so könnte man denken. – Angenommen also, ›der Âtman sei nicht als das eigene Ich aufzufassen; denn wer als Eigenschaften die Sündlosigkeit u.s.w. besitzt, der kann nicht unter den entgegengesetzten Eigenschaften begriffen werden, so wenig wie derjenige, welcher diese entgegengesetzten Eigenschaften besitzt, unter den Eigenschaften der Sündlosigkeit u.s.w. Der höchste Gott nun hat die Eigenschaften der Sündlosigkeit u.s.w., während hingegen die verkörperte Seele die entgegengesetzten Eigenschaften an sich trägt. Soll nun Gott das Wesen der wandernden Seele besitzen, so kann er nicht Gott sein, und die Schriftlehre wird bedeutungslos; soll hingegen die wandernde Seele ihrem Wesen nach Gott sein, so kann sie nicht zu den Werken verpflichtet werden, der Schriftkanon | von den Werken] wird bedeutungslos und der Wahrnehmung u.s.w. wird widersprochen. Meint ihr, dass auf Grund der Schrift auch neben der Verschiedenheit eine Wesensidentität angenommen werden könne, ähnlich der des Vishṇu u.s.w. mit den Sinnbildern desselben u.s.w.,[691] so würde, die Möglichkeit hiervon zugegeben, doch insofern die Sache für uns unannehmbar sein, als jedenfalls die wandernde Seele dann doch nicht der eigentliche Âtman, nämlich Gott, sein könnte.‹ – Auf diese Annahme erwidern wir: »als der Âtman (das Selbst)« ist der höchste Gott zu begreifen; denn in dieser Weise | wird in einer Stelle, welche von dem höchsten Gotte handelt, derselbe als der Âtman »anerkannt« von den Jâbâla's, da wo es heisst: »fürwahr, ich bin du, o heilige Gottheit, und du, o Gottheit bist ich«. Und auch andere Stellen, z.B. das Wort »ich bin Brahman« (Bṛih. 1, 4, 10), sind als solche Anerkennungen desselben als das eigene Selbst zu betrachten. Auch sind es Vedântatexte wie die folgenden, welche Gott »kennen lehren« als das eigene Selbst: »es ist deine Seele, die allem innerlich ist« (Bṛih. 3, 4, 1); – »der ist deine Seele, der innere Lenker, der Unsterbliche« (Bṛih. 3, 7, 3); – »das ist das Reale, das ist die Seele, das bist du« (Chând. 6, 8, 7) u.s.w. Wenn behauptet wurde, dass es sich dabei ähnlich wie bei den Vishnubildern um die Auffassung Gottes in einem Sinnbilde handeln könne, so ist das unrichtig, weil dann die Sache nur uneigentlich zu nehmen wäre, und weil auch der Schriftausdruck dem nicht entspricht. Denn wo es sich um die Auffassung in einem Sinnbilde handelt, da kommt die Satzverbindung nur einmal vor, und es heisst z.B.: »Brahman ist das Manas« (Chând. 3, 18, 1) oder »Brahman ist die Sonne« (Chând. 3, 19, 1) u.s.w. Hier hingegen sagt die Schrift: »ich bin du und du bist ich.« Also, weil bei Sinnbildern die Schrift sich anders ausdrückt, ist die Wesenseinheit anzunehmen. Ferner auch, weil die Schrift die Anschauung der Verschiedenheit verbietet; denn es heisst: »wer aber die Gottheit als ein anderes verehrt und spricht: ›ein anderer ist sie und ein anderer bin ich‹, der ist nicht weise« (Bṛih. 1, 4, 10); – »von Tod zu Tode wird verstrickt, wer ein [von Brahman] Verschied'nes hier erblickt« (Bṛih. 4, 4, 19); – »das Weltall schliesst den aus, welcher das Weltall ausserhalb des Selbstes weiss« (Bṛih. 2, 4, 6); diese und viele andere Schriftstellen verbieten die Auffassung der Verschiedenheit. Wenn aber behauptet wurde, dass Dinge von entgegengesetzten Eigenschaften nicht miteinander identisch sein könnten, so ist dies kein Einwand, weil die Gegensätzlichkeit der Eigenschaften | nur auf einer falschen Erkenntnis beruht. Wenn weiter gesagt wurde, dass dann kein Gott sein könne, so ist das falsch, weil hier die Schrift die Erkenntnisnorm bildet, und weil auch wir es gar nicht in dieser Weise auffassen; denn wir behaupten gar nicht, dass gelehrt werde, dass Gott seinem Wesen nach die wandernde Seele sei, sondern vielmehr umgekehrt, glauben wir, ist die Schrift bemüht zu zeigen, dass die wandernde Seele unter Beseitigung ihres Wandererseins ihrem Wesen nach Gott ist. Ist dem aber so, so besitzt der von aller Zweiheit freie Gott allerdings die Eigenschaften der Sündlosigkeit, und dass Gott die entgegengesetzten[692] Eigenschaften besitze, ist hingegen falsch. Wenn weiter behauptet wurde, dass dann niemand zu den Werken berufen sein könne, und dass damit der Wahrnehmung u.s.w. widersprochen werde, so ist das unrichtig. Nämlich vor der Erweckung (prabodha) wird das Wanderersein als gültig angenommen, und auf dieses bezieht sich das Treiben der Wahrnehmung u.s.w.; »wo aber einem alles zum eigenen Selbste geworden ist, wie sollte er da irgend wen sehen« u.s.w. (Bṛih. 4, 5, 15); in diesen Worten lehrt die Schrift, dass nach erfolgter Erweckung die Wahrnehmung u.s.w. zu nichte wird. Werft ihr ein, dass mit Vernichtung der Wahrnehmung auch die Schrift zu nichte werden müsse, so begründet dieses keinen Einwurf, indem wir es selbst so annehmen; denn an der Stelle »dann ist der Vater nicht Vater« heisst es weiter: »der Veda ist nicht Veda« (Bṛih. 4, 3, 22); aus diesem Worte ist ersichtlich, dass wir selbst die Schrift für den Zustand der Erweckung nicht mehr als bestehend betrachten. Fragt aber einer: ›'wer ist denn der Nichterweckte?‹ so antworten wir: eben du, der du fragst. – ›Aber ich bin ja Gott nach der Schriftlehre!‹ – Wenn du das weisst, so bist du erweckt, und dann giebt es überhaupt keinen Nichterweckten mehr. – Hiermit ist auch der Einwurf, den einige vorbringen, | dass doch wenigstens kraft des Nichtwissens der Âtman zweiheitlich, und darum die Einheitlichkeit unmöglich sei, schon beantwortet. Darum soll man bemüht sein, seinen Geist auf Gott, das heisst auf das eigene Selbst zu richten.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 691-693.
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