[403] 17. na âtmâ, açruter; nityatvâc ca tâbhyaḥ
nicht das Selbst, weil nicht schriftgemäss; auch wegen der Ewigkeit, nach jenen [Schriftstellen].

Es giebt ein Selbst, genannt die individuelle Seele, welches als der Ausseher in dem Käfige des Leibes und der Sinnesorgane mit der Frucht der Werke behaftet ist. Ist dieses Selbst, ähnlich wie der Raum u.s.w., aus dem Brahman entstanden, oder ist es, so wie das Brahman selbst, nicht entstanden? Darüber besteht, indem die Schrift sich in widersprechendem Sinne äussert, ein Zweifel. In einigen Schriftstellen wird durch Vergleiche, wie den mit dem Feuer und seinen Funken, ein Entstehen des individuellen Selbstes aus dem höchsten Brahman gelehrt; in andern Stellen wiederum wird das Sein der individuellen Seele aufgefasst als ein Eingegangensein des unerschaffenen, höchsten Brahman in die erschaffene Welt, während dabei von einer Entstehung der individuellen Seele nicht die Rede ist. – Angenommen also, ›die individuelle Seele sei entstanden; warum? damit die Verheissung erfüllt werde. Nämlich die Verheissung, dass mit der Erkenntnis des einen diese ganze Welt erkannt sei (vgl. Muṇḍ. 1, 1, 3; Chând. 6, 1, 3; 6, 4, 5), wird nur dann erfüllt, wenn alles dingliche Sein aus Brahman entsprungen ist; hat hingegen die individuelle Seele eine von ihm verschiedene Wesenheit, so bleibt diese Verheissung unerfüllt. Auch kann man nicht annehmen, dass die individuelle[403] Seele der unerschaffene, höchste Âtman selbst sei, weil zwischen beiden eine Verschiedenheit der Merkmale stattfindet. Nämlich der höchste Âtman hat als Eigenschaften die Sündlosigkeit u.s.w., die individuelle Seele hingegen die entgegengesetzten. Ferner ergiebt sich ihr Erschaffensein auch aus ihrer Geteiltheit. Denn alles vom Raume an, was teilbar ist, ist ein Erschaffenes, und wir haben die Entstehung desselben vom Raume abwärts durchgegangen. Nun ist auch die individuelle Seele wegen ihrer guten und bösen Werke zum Zwecke des Geniessens von Lust und Schmerz je nach den Leibern abgegrenzt. Somit muss auch sie bei Gelegenheit der Weltschöpfung entstanden sein. | Auch heisst es: »so wie aus dem Feuer die winzigen Fünklein entspringen, also auch entspringen aus diesem Âtman alle Lebensgeister«; und nachdem hier gelehrt worden, dass alles zu Geniessende von den Lebensgeistern an erschaffen sei, so wird durch die weiter folgenden Worte: »und alle diese Selbste« noch besonders die Schöpfung der geniessenden Seele hervorgehoben (Bṛih. 2, 1, 20 Mâdhy.). Ferner heisst es (Muṇḍ. 2, 1, 1):


»Wie aus dem wohlentflammten Feuer die Funken

Ihm gleichen Wesens tausendfach entspringen,

So gehn, o Teurer, aus dem Unvergänglichen

Die mannigfachen Wesen

Hervor und wieder in dasselbe ein«;


hier wird ein Entstehen und Vergehen der individuellen Seelen gelehrt, indem von ihnen gesagt wird, dass sie an dem Wesen des Brahman teilnehmen; an diesem Wesen des Brahman nämlich nehmen die individuellen Seelen teil, sofern auch sie mit Geistigkeit behaftet sind. Wenn aber die Schrift irgendwo etwas nicht lehrt, so wird dadurch nicht ausgeschlossen was sie an einem andern Orte lehrt; vielmehr muss man den Schriftinhalt, auch wenn er aus einer andern Stelle herrührt und etwas Neues, jedoch nicht Widersprechendes, beibringt, aus dem allem zusammenfassen. Somit muss man auch die Schriftstelle von dem Eingehen [des Brahman in die Weltwirkung, Chând. 6, 3, 2] als ein Übergehen in ein umgewandeltes Sein auffassen, wie es ja auch z.B. heisst: »dasselbe machte selber sich selbst« (Taitt. 2, 7.) Aus dem allem ergiebt sich, dass die individuelle Seele entstanden ist.‹

Auf diese Annahme erwidern wir: »nicht das Selbst«, d.h. die individuelle Seele ist nicht entstanden; warum? »weil nicht schriftgemäss«; d.h. an den mancherlei Stellen, wo die Schöpfung gelehrt wird, ist dabei von der Seele keine Rede. – ›Aber sagten wir nicht, dass durch das, was an einer Stelle nicht gelehrt wird, nicht ausgeschlossen wird, was an einer andern Stelle gelehrt wird?‹ – Allerdings! wir aber haben weiter zu bemerken, dass[404] eine Entstehung der Seele gar nicht möglich ist; warum? »auch wegen der Ewigkeit nach jenen [Schriftstellen]«; das Wort »auch« deutet noch weitere Gründe, z.B. die Unentstandenheit u.s.w., an. Die Ewigkeit der Seele aber folgt aus der Schrift und ebenso ihre Unentstandenheit und Unerschaffenheit, sowie auch, dass das unerschaffene Brahman selbst in Gestalt der individuellen Seele besteht, und dass diese ihrem Wesen nach Brahman ist. Steht es aber so mit ihr, so ist eine Entstehung derselben unmöglich. | Und welches sind jene Schriftstellen [auf die das Sûtram verweist]? – »nicht aber stirbt das Leben« (Chând. 6, 11, 3); – »fürwahr dieses grosse, ungeborene Selbst ist nicht alternd, ... unsterblich, furchtlos, ist das Brahman« (Bṛih. 4, 4, 25); – »nicht wird geboren oder stirbt der Weise« (Kâṭh. 2, 18); – »beharrend, ewig, ungeboren ist der Alte« (Kâṭh. 2, 18); – »nachdem er dieses erschaffen, ging er in dasselbe ein« (Taitt. 2, 6); – »ich will mit diesem lebenden Selbste in sie eingehen und auseinanderbreiten Namen und Gestalten« (Chând. 6, 3, 2); – »in sie ist jener [Âtman] eingegangen bis in die Nagelspitzen hinein« (Bṛih. 1, 4, 7); – »das bist du« (Chând. 6, 8, 7); – »ich bin Brahman« (Bṛih. 1, 4, 10); – »diese Seele ist das Brahman, die allvernehmende« (Bṛih. 2, 5, 19); – diese und andere Schriftstellen bezeugen die Ewigkeit und verneinen die Entstehung der individuellen Seele. – ›Aber sagten wir nicht, dass sie wegen ihrer Geteiltheit eine Umwandlung und als solche entstanden sein müsse?‹ – Darauf ist zu bemerken, dass ihr die Geteiltheit an sich (svatas) gar nicht zukommt; denn die Schrift sagt (Çvet. 6, 11):


»Der eine Gott, verhüllt in allen Wesen,

Durchdringend alle, aller inn're Seele.«


Hingegen ist die scheinbare Geteiltheit der Seele nur durch die Upâdhi's der Buddhi u.s.w. bedingt, so wie die des Raumes durch die Verbindung mit den Gefässen bedingt ist. Und so sagt auch der Schriftkanon: »wahrlich | dieses Selbst ist das Brahman, erkenntnisartig, manasartig, odemartig, augeartig, ohrartig« (Bṛih. 4, 4, 5); – diese Schriftstelle bezeugt, dass es das Brahman selbst, jenes unerschaffene, eine Seiende ist, welches in vielheitlicher Weise erkenntnisartig u.s.w. wird. Dass es aber nur so- und so- artig ist, bedeutet, dass seine absolute Natur dabei nicht offenbar wird, sondern nur seine durch jene Dinge übertünchte Natur, ähnlich wie wenn man sagt: »er ist ein weiberartiger Schwächling«. Wenn aber gelegentlich die Schrift von einem Entstehen und Vergehen der Seele redet, so ist auch dieses aus demselben Grunde, nämlich aus ihrer Verbindung mit den Upâdhi's, zu erklären, indem ihr Entstehen ein Entstehen der Upâdhi's und ihr Vergehen ein Vergehen derselben bedeutet. Und[405] so sagt die Schrift: »er besteht durch und durch ganz aus Erkenntnis: als diese Kreaturen erhebt er sich und mit ihnen geht er wieder unter; nach dem Tode ist kein Bewusstsein« (Bṛih. 4, 5, 13.) Hier ist von einem Vergehen der Upâdhi's, nicht von einem Vergehen der Seele die Rede, wie auch das Folgende beweist: »damit, o Herr, hast du mich in einen Zustand der Verwirrung gesetzt; diesen [Âtman] begreife ich freilich nicht, und dass nach dem Tode kein Bewustsein sein soll«; auf diese Frage erfolgt die Belehrung: »nicht Verwirrung wahrlich rede ich; unvergänglich fürwahr ist dieser Âtman, unzerstörbaren | Wesens; aber eine Loslösung desselben von der Materie vollzieht sich« (Bṛih. 4, 5, 14 Mâdhy.). Und auch die Verheissung bleibt nicht unerfüllt, wenn man annimmt, dass das unerschaffene Brahman selbst die individuelle Seele ist. Die Verschiedenheit der Merkmale aber zwischen Brahman und Seele hat ihren Grund nur in den Upâdhi's. Denn wenn es heisst: »rede höher als dieses was zur Erlösung dient« (Bṛih. 4, 3, 14), so werden hiermit dem in Rede stehenden erkenntnisartigen Selbste alle Qualitäten des Saṃsâra abgesprochen und von ihm gelehrt, dass es der höchste Âtman ist. Somit kann die Seele weder entstehen noch vergehen.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 403-406.
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