[267] 6. dṛiçyate tu
vielmehr zeigt die Erfahrung.

Das Wort »vielmehr« weist die Ansicht des Gegners ab. Wenn behauptet wurde, dass diese Welt wegen der Wesensverschiedenheit nicht Brahman zum Urstoffe haben könne, so ist dieser Grund nicht zwingend; denn »die Erfahrung« des gewöhnlichen Lebens »zeigt«, wie aus anerkannt geistigen Wesen, z.B. Menschen, die davon wesensverschiedenen Haare, Nägel u.s.w. entspringen, und wie aus anerkannt Ungeistigem, z.B. aus dem Miste, Mistkäfer u.s.w. entspringen. – ›Aber sind nicht vielmehr nur die ebenfalls ungeistigen Körper der Menschen die Ursachen der ungeistigen Haare, Nägel u.s.w., | und ebenso die ungeistigen Körper der Mistkäfer u.s.w. die Wirkungen des ungeistigen Mistes u.s.w.?‹ – Wir antworten: auch wenn man es so nimmt, so hat doch einiges Ungeistige [die organische Materie] ein Geistiges zu seiner[267] Unterlage, und anderes [die unorganische Materie] wieder nicht; so dass immerhin jene Wesensverschiedenheit [zwischen unorganischer und organischer Materie als Ursache und Wirkung] besteht. Und jedenfalls bleibt jene auf blosser Umwandlung beruhende Abweichung von der ursprünglichen Natur eine grosse, indem z.B. die Menschen u.s.w. von den Haaren und Nägeln u.s.w. an Gestalt u.s.w. verschieden sind, und ebenso der Mist u.s.w. von den Mistkäfern u.s.w. Und überhaupt würde bei völliger Identität [von Ursache und Wirkung] der ganze Gegensatz zwischen dem Urstoffe und seinen Umwandlungen zu nichte werden. Oder wollt ihr vielleicht einwenden, dass ›doch eine gewisse Grundwesenheit, wie etwa das Bestehen aus Erdstoff, bei den Menschen u.s.w. vorhanden sei, die bei den Haaren und Nägeln u.s.w. sich wiederfinde, und ebenso die des Mistes u.s.w. bei den Mistkäfern u.s.w.‹? – nun, dann müssen wir bemerken, dass in diesem Sinne auch die Grundwesenheit des Brahman, nämlich seine Eigenschaft, das Seiende zu sein, auch in dem Äther und der übrigen Schöpfung sich wiederfindet. Und wenn ihr euch auf die Wesensverschiedenheit stützen wollt, um den Ursprung der Welt aus Brahman zu bemängeln, so mögt ihr uns doch auf Folgendes antworten: soll vielleicht 1) eine Nichtübereinstimmung mit der vollen Wesenheit des Brahman schon für eine Wesensverschiedenheit gelten, oder soll 2) die Wesensverschiedenheit sich auf alles und jedes, oder 3) nur auf die Geistigkeit des Brahman erstrecken? Im ersten Falle wird überhaupt das ganze Verhältnis von Urstoff und Produkt unmöglich gemacht; denn ohne ein Hinausreichen [der Wirkung über die Ursache] findet überhaupt kein Verhältnis von Urstoff und Produkt statt. Im zweiten Falle | streitet man gegen ein allgemeines Zugeständnis; denn der Augenschein lehrt, wie wir zeigten, dass die der Natur des Brahman zukommende Bestimmung des Seins sich bei dem Äther und den übrigen Geschöpfen wiederfindet. Im dritten Falle fehlt es an einer [auch vom Gegner zugestandenen] Argumentationsbasis (dṛishṭânta); denn welche derartige Argumentationsbasis liesse sich wohl für die Behauptung, dass das der Geistigkeit Ermangelnde nicht aus Brahman stammen könne, dem Verfechter der Ursächlichkeit des Brahman gegenüber auftreiben, da derselbe ja annimmt, dass diese ganze Welt der Objekte [aus der ihr euer Widerlegungsbeispiel schöpfen müsstet] in Brahman ihren Urstoff hat? Selbstverständlich streitet diese Annahme auch gegen die heilige Überlieferung, als deren Endzweck wir erkannt haben, das geistige Brahman als bewirkende und zugleich als materielle Ursache der Welt zu lehren. Wenn hingegen behauptet wurde, dass auf das Brahman als ein wirklich Vorhandenes auch die andern [weltlichen] Erkenntnismittel ihre Anwendung finden müssten, so ist auch dieses ein blosses Postulat. Denn in den Bereich der Anschauung[268] fällt unser Gegenstand nicht, weil er keine Gestalt u.s.w. hat; und in den Bereich der Schlussfolgerung und der übrigen Erkenntnismittel nicht, weil keine Merkmale des selben [in der Erfahrung] vorliegen. Vielmehr ist dieser Gegenstand, ebenso gut wie die Pflichtvorschrift, nur aus der heiligen Überlieferung zu erkennen. Und dies lehrt auch die Schrift, wenn es heisst (Kâṭh. 2, 9):


»Nicht ist durch Grübeln jener Sinn zu fassen;

Nur wenn ein anderer uns ihn verkündet,

Dann wird, o Teuerster, er leicht begriffen«;


und Ṛigveda (10, 129, 6. 7):


»Wer weiss es wohl, wer mag es hier verkünden,

Woher sie kam, woraus sie ward, die Schöpfung?«


| Diese beiden Verse beweisen, dass auch für die Vollendeten, und wären es selbst Götterherren, die Ursache der Welt schwer zu ergründen ist. Auch in der Smṛiti heisst es:


»Bestimmungen, die unerkennbar sind,

Die lassen sich durch Denken nicht ermitteln;

Denn darum eben ist es unerkennbar,

Weil es erhaben über alles ist,

Was ihr als Urnatur ergrübeln mögt!« –


»Undenkbar und unoffenbar, unwandelbar wird er genannt«;


(der letzte Vers Bhag. G. 2, 25); und ferner (Bhag. G. 10, 2):


»Nicht Götterscharen und nicht grosse Weisen

Vermögen meinen Ursprung zu ergründen,

Weil ich der Anfang aller Götter bin

Und aller grossen Weisen allerwärts.«


– Wenn weiter daraus, dass die Schrift ausser dem Hören auch das Verstehen empfiehlt, geschlossen wurde, dass dieselbe auch die Reflexion für schätzbar halte, so reicht dieser Scheingrund nicht aus, um der dürren Reflexion zur Wesenheit zu verhelfen; denn dort ist nur von einer auf die Schrift gerichteten Reflexion die Rede, als welche allerdings an dem Innewerden der Sache ihren Anteil hat, von einer Reflexion z.B., welche erkennt, dass der Âtman vom Zustande des Traumes und von dem des Wachens, weil er von beiden gleichmässig verschieden ist, nicht betroffen wird, dass er im Tiefschlafe die Weltausbreitung aufgiebt und mit dem wahrhaft seienden Âtman eins wird, und dass er daher seinem wahren Wesen nach frei von der Weltausbreitung ist, dass endlich die Weltausbreitung, weil sie aus Brahman entspringt, nach dem Satze von der Identität der Ursache und der Wirkung über[269] Brahman hinaus keinen Bestand hat; – eine solche Reflexion ist es, welche von der Schrift empfohlen wird. | Dass hingegen eine blosse [nicht auf der Schrift fussende] Reflexion trügerisch ist, wird der Lehrer an der Stelle: »bei Unbegründetheit der Reflexion« (Sûtram 2, 1, 11) zeigen. Wer aber [in der oben p. 421, 3 fg. ausgeführten Weise] auf Grund des Schriftwortes von dem Geistigen als der Weltursache die ganze Welt als ein Geistiges aufzufassen geneigt wäre, der könnte auch die Schriftstelle von der Einteilung in Geistiges und Ungeistiges, Bewusstsein und »Unbewusstsein« (Taitt. 2, 6) dahin verstehen, dass das Geistige teils wahrnehmbar und teils nicht wahrnehmbar sei. Hingegen ist es vielmehr der Gegner [aus der Sâ khyaschule], zu dessen Ansicht diese von der Schrift gelehrte Einteilung nicht passt. Wie das? Nun, weil die Schrift hier in den Worten: »Bewusstsein und Nichtbewusstsein ward er« (Taitt. 2, 6) lehrt, dass die höchste Ursache in Gestalt der ganzen Welt ihr Bestehen hat. Mit demselben Rechte nun, mit dem ihr bestreitet, dass das Geistige zu einem Ungeistigen werden könne, wegen seiner Wesensverschiedenheit, mit demselben Rechte bestreiten wir, dass das Ungeistige [euere Urmaterie] zu einem Geistigen werden kann [was freilich die Sâ khya's vom Standpunkte ihres ursprünglichen Dualismus aus auch nicht behaupten]. – Da wir aber vielmehr jenen ganzen Einwand aus der Wesensverschiedenheit bereits widerlegt haben, so bleibt es dabei, dass, wie die Schrift es lehrt, das Geistige als die Weltursache festzuhalten ist.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 267-270.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon