[255] 1. smṛiti-anavakâça-dosha-prasa ga', iti cen? na! anya-smṛiti-anavakâça-dosha-prasa gât.
Es trete der Fehler ein, dass die Smṛiti keine Berechtigung habe, meint ihr? Nein, weil [wenn man die eine Smṛiti zulässt] der Fehler eintritt, dass die andern Smṛiti's keine Berechtigung haben.

Im ersten Adhyâya wurde bewiesen, dass der allwissende und allmächtige Gott die Ursache ist für die Entstehung der Welt, so wie der Thon für die der Gefässe, das Gold für die der Geschmeide; dass er ferner nach Entstehung der Welt, vermöge seiner Eigenschaft als der Regierer, die Ursache ist für das Fortbestehen der Welt, so wie der Zauberer für das des Zaubers; und dass er endlich auch die Ursache ist für die Reabsorption der aus ihm herausgesetzten Welt in sein eigenes Selbst, so wie der Erdengrund für die vier Klassen der [organischen] Wesen; – und eben dieser [allwissende und allmächtige Gott] ist die Seele in einem jeden von uns. – Alles dieses haben wir durch den Nachweis der Übereinstimmung der Vedântatexte erwiesen und dabei die Lehren von der Urmaterie u.s.w. als schriftwidrige verworfen. Nunmehr ist es unsere Aufgabe, den Widerspruch der Smṛiti– Reflexion auf ihrem eigenen Gebiete [d.h.[255] gleichfalls durch Reflexion | zu entkräften (Pâda 2, 1), sodann, von den Theorien der Urmaterie u.s.w. zu beweisen, dass es nur Scheingründe sind, mit denen sie sich brüsten (Pâda 2, 2), und endlich darzuthun, dass die verschiedenen Vedântatexte in Bezug auf den Hergang bei der Weltschöpfung u.s.w. nicht miteinander in Widerspruch stehen (Pâda 2, 3-4.) Dieser Art ist der Gegenstand, zu dessen Abhandlung der zweite Adhyâya bestimmt ist. – Zunächst also kommt es darauf an, den Widerspruch der Smṛiti darzulegen und zu entkräften.

›Wenn behauptet wurde‹, so könnte man sagen, ›dass nur das allwissende Brahman die Ursache der Welt sein könne, so ist das unpassend; | warum? »weil dann der Fehler eintritt, dass die Smṛiti keine Berechtigung hat«. Nämlich sowohl diejenige Smṛiti, welche, als ein Lehrgebäude auftretend, von dem grossen Weisen [Kapila] aufgebracht und von seinen Schülern angenommen worden ist, als auch andere Smṛititexte, welche in ihre Fusstapfen treten, diese alle haben, wenn es so steht, keine Berechtigung zu existieren, sofern der Zweck der Abfassung darin besteht, die ungeistige Urmaterie als die selbständige Ursache der Welt aufzuweisen. Was allerdings die Smṛiti des Manu und ähnliche betrifft, welche bemüht sind, in Bezug auf das, was zur Pflichtlehre gehört und auf |vedischer] Vorschrift beruht, z.B. das Feueropfer u.s.w., den dabei beabsichtigten Zweck zu erörtern, so haben diese eine Berechtigung der Existenz, sofern sie auseinandersetzen, wie die und die Kaste zu der und der Zeit auf die und die Weise bei einem Lehrer einzuführen ist, wie der Lebenswandel zu gestalten, wie das Vedastudium, wie die Entlassung des Schülers, wie seine Verbindung mit einer Miterfüllerin des Gesetzes zu bewerkstelligen ist, indem sie auf diese Weise die mannigfaltigen Pflichten der vier Kasten und Lebensstadien, wie sie den Zweck des Menschen bilden, auseinandersetzen. Anders aber steht es mit der Smṛiti des Kapila und ähnlichen; diese haben es nicht mit einem Gegenstand der Pflichterfüllung zu thun, sondern sind aufgebracht worden zu dem Zwecke, die vollkommene Erkenntnis, wie sie der Weg zur Erlösung ist, darzulegen; müssen wir ihnen nun hierzu die Berechtigung absprechen, so tritt der Fall ein, dass sie zu gar keinem Zwecke tauglich sind; | darum muss man vielmehr die Vedântatexte so erklären, dass sie mit jenen übereinstimmen.‹ –

Aber wie ist es möglich, nachdem wir durch all die Gründe, »wegen des Erwägens« (Sûtram 1, 1, 5) u.s.w., als Inhalt der Schrift festgestellt haben, dass das allwissende Brahman allein die Weltursache sei, dieses Resultat nun wieder bloss deswegen anzufechten, weil sonst der Übelstand eintrete, dass die Smṛiti keine Berechtigung habe! Und allerdings ist ein solcher Angriff für selbständige Denker bedeutungslos. Aber die Leute sind meistenteils[256] in ihrem Denken unselbständig und nicht im Stande, den Schriftsinn aus sich selbst heraus aufzufassen; daher sie sich vielleicht auf die von berühmten Urhebern herrührende Smṛiti stützen könnten und den Schriftsinn ihrer Autorität gemäss anzunehmen geneigt sein möchten, der von uns verfassten Auslegung hingegen, wegen der Verehrung für jene Urheber der Smṛiti, kein Vertrauen schenken würden. ›Auch wird ja‹, so können die Gegner noch geltend machen, ›von der Smṛiti erwähnt, dass ein Kapila und andere eine seherartige, unfehlbare Erkenntnis gehabt hätten; ja es giebt sogar eine Stelle der Schrift, welche sagt (Çvet. 5, 2):


»Der mit dem weisen Kapila zu Anfang,

Nachdem gezeugt er, schwanger ging im Geiste,

Und ihn geboren wünschte zu erschauen.«


| Darum darf man nicht die Gedanken dieser Männer als nicht zur Sache gehörig erachten. Auch stellen sie den Schriftsinn fest, indem sie dabei [ebenso wie ihr] sich auf die Reflexion stützen; und auch darum muss man die Vedântatexte der Smṛitilehre gemäss auslegen.‹ – So lautet der erneute Angriff. –

Ihm wird gewehrt mit den Worten: »nein! weil [wenn man die eine Smṛiti zulässt] der Fehler eintritt, dass die andern Smṛiti's keine Berechtigung haben.« Wenn man nämlich deswegen, weil sonst für die Smṛiti keine Berechtigung sein würde, die Lehre von Gott als der Weltursache beanstandet, so trifft es sich, dass man eben damit andern Smṛititexten, welche gleichfalls lehren, dass Gott die Weltursache sei, die Berechtigung absprechen muss. Wir wollen dieselben anführen. An der Stelle: »Was jenes unerkennbar Feine ist«, in welcher von dem höchsten Brahman gehandelt wird, heisst es von ihm: »er wird als innres Selbst der Wesen, als ihre Seele anerkannt«; und weiter: »von diesem ging das Unerschlossne aus mit den drei Guṇa's, Bester der Brahmanen« (Mahâbh. 12, 13679 fg.). Ebenso heisst es auch an einer andern Stelle: »das Unerschlossne löst, o Priester, im guṇalosen Purusha sich auf« (Mahâbh. 12, 12895.) – Ferner sagt ein Purâṇam (fast wörtlich Mahâbh. 12, 11211):


| »So höret denn die Summa von dem allen:

Nârâyaṇa ist diese Welt, der Alte;

Er hat zur Schöpfüngszeit die Welt geschaffen,

Er zur Vernichtungszeit verschlingt sie wieder.«


– Und in den Bhagavadgîtâ's (7, 6) heisst es:


»Ich bin für diese ganze Welt

Der Ursprung und der Untergang.«


– Ebenso lässt sich mit Bezug auf den höchsten Âtman Âpastamba vornehmen (Dharmasûtra 1, 8, 23, 2): »aus ihm entstanden[257] sind die Leiber alle; er ist die Wurzel immerdar und ewig«. – – In dieser Weise wird oft genug auch von den Smṛititexten Gott als die bewirkende und auch als die materielle Ursache anerkannt. Tritt nun jemand, gestützt auf die Autorität einer Smṛiti, gegen uns auf, so können wir ihm, ebenfalls gestützt auf die Autorität einer Smṛiti, die Antwort geben; das bedeutet diese Hervorhebung als eines Übelstandes, dass [wenn die eine Smṛiti gelten soll] »die andern Smṛiti's keine Berechtigung haben«. Was aber die Texte der Schrift betrifft, so haben wir bewiesen, dass ihr Zweck dahin geht, die Weltursache zu offenbaren; und wenn die Smṛititexte darüber miteinander in Widerspruch stehen, so dass man notwendigerweise | eine Smṛiti aufgeben muss, um die andere zu halten, nun so bilden diejenigen Smṛititexte, welche der Schrift folgen, die Richtschnur, und die andern verdienen keine Berücksichtigung; daher es auch in dem Kapitel von der Richtschnur heisst: »widerspricht sie, so weise man sie ab, wenn nicht, so dient sie zur Stütze« (Jaim. 1, 3, 3.) – Es ist aber auch nicht abzusehen, wie irgend jemand ohne die Schrift das Übersinnliche vernehmen sollte, da ein Anlass, auf dasselbe zu schliessen, [in dem Sinnlichen] nicht vorliegt. Meint ihr, dass dies bei einem Kapila und ähnlichen doch möglich sei, weil sie als Vollendete (siddha) ein unbeschränktes Erkennen besitzen, so bestreiten wir das, weil auch jene Vollendung nur eine bedingte ist. Nämlich die Vollendung wird bedingt durch Erfüllung der [ceremoniellen] Pflicht, diese Pflicht aber beruht auf [vedischer] Aufforderung; darum kann der Inhalt der schon vorher vorhanden gewesenen [vedischen] Aufforderung [die Pflicht zu betreiben oder auch den Âtman als Weltursache zu erkennen] nicht durch die Behauptungen eines erst hinterher [durch Betreibung jener Pflicht] zur Vollendung gelangten Menschen zweifelhaft gemacht werden, zumal, wenn in der auf jene Vollendeten zurückgehenden Anschauungsweise eine Vielheit [der Meinungen] sich zeigt; und da, wie oben nachgewiesen, in der auf die Vollendeten zurückgehenden Smṛiti eine derartige Zwiespältigkeit wirklich vorliegt, so giebt es, um [über die widersprechenden Meinungen hinaus] ins Klare zu kommen, gar keinen andern Ausweg als diesen, dass man sich an die Schrift hält. Und auch Leute von unselbständigem Urteil dürfen darum doch nicht ohne Weiteres für irgend eine bestimmte Smṛiti Partei nehmen, weil, wenn man vielmehr (tu) sich irgend einer beliebigen Partei anzuschliessen berechtigt wäre, | wegen der Mannigfaltigkeit der menschlichen Meinungen, der [unmögliche] Fall eintreten würde, dass die Wahrheit selbst ein Nichtbeständiges wäre. Darum muss auch ein solcher [der nicht mit eignen Augen, sondern nur mit denen der Smṛiti zu sehen vermag] durch Beachtung des Widerspruches der Smṛititexte gegen einander und durch Scheidung dessen, was der Schrift gemäss ist, auf einem[258] gesunden Wege der Erkenntnis zustreben. – Wenn hingegen oben auf eine Schriftstelle hingewiesen wurde, welche von dem hohen Wissen des Kapila spricht, so reicht auch das nicht hin, um einer Meinung des Kapila, falls sie der Schrift widerspricht, Glauben zu verschaffen; denn die ganze Übereinstimmung der Schrift [mit der Smṛitianschauung] liegt hier in dem blossen Namen des Kapila; es giebt aber noch einen andern Kapila, nämlich den Verbrenner der Söhne des Sagara (vgl. Mahâbh. 3, 8831 fg.; 12, 10613 fg.), der auch Vâsudeva heisst; wo es sich aber um eine andere Sache handelt, die der Zutreffung auf den vorliegenden Fall ermangelt, da kann diese nichts beweisen. Übrigens giebt es auch eine Schriftstelle, welche die Geistesgrösse des Manu preist, indem sie sagt: »fürwahr, alles was Manu gesagt hat, das ist Arzenei« (Taitt. saṃh. 2, 2, 10, 2); Manu aber sagt (12, 91):


»Wer alle Wesen in sich selbst, sich selbst in aller Wesenheit

Erkennt, der opfert nur dem Selbst und gehet ein zur Herrlichkeit«;


in diesen Worten preist Manu die Lehre, dass alles Seele sei, und verwirft folglich die Ansicht des Kapila; Kapila nämlich kommt in seinen Schlüssen nicht zu der Anschauung, dass die ganze Welt der Âtman sei, sondern nimmt vielmehr eine Vielheit von Seelen an. Ebenso [wie mit Manu] steht es mit dem | Mahâbhâratam, wo die Frage aufgeworfen wird:


»Sind viele Geister oder ist nur einer?«


worauf als gegnerische Behauptung aufgestellt wird:


»Wenn wir dem Sânkhyam und dem Yoga folgen,

So gäbe es, o Fürst, der Geister viele«;


zu ihrer Widerlegung heisst es dann (Mahâbh. 12, 13715):


»Ein Ursprung nur ist all der vielen Geister,

Der guṇalose Geist; er ist das Weltall«;


und weiter heisst es (Mahâbh. 12, 13743 fg.):


»Er ist mein Selbst und deins und aller andern

Verkörperten, doch ist er unerkennbar,

Weil er Zuschauer bloss in allen ist.

Ganz Haupt, ganz Arm, ganz Füsse, Augen, Nase,

Durchdringt die Wesen er allein und wandelt

Nach freier Willkür wie es ihm gefällt«;


in diesen Worten liegt ausgesprochen, dass alles allein die Seele ist; oben dasselbe aber lehrt auch die Schrift, wenn sie sagt (Îçâ 7):


| »Wer aller Wesen Schar nur als sein Selbst empfindet,

Der schaut die Einheit an, und Schmerz und Wahn verschwindet.«[259]


Also auch darin widerspricht die Lehre Kapila's dem Veda und widerspricht dem mit dem Veda gehenden Worte des Manu, dass Kapila eine Vielheit von Seelen annimmt, nicht nur darin, dass er, wie wir besprochen haben, eine selbständige Urnatur annimmt. Nun ist aber die Autorität des Veda in Bezug auf seinen Gegenstand eine unbedingte, wie die der Sonne auf dem Gebiete der Gestalten, während hingegen die Autorität von Menschenworten in Bezug auf ihren Gegenstand bedingt wird durch den Grund, auf den sie sich stützt, und von dem sie durch die Erinnerung des Redenden getrennt wird; das ist der grosse Unterschied; und darum ist es kein Fehler, wenn für die Smṛiti auf Punkten, wo sie dem Veda widerspricht, keine Berechtigung sich angeben lässt.

Und warum ist ferner die der Smṛiti abgehende Berechtigung kein Fehler?

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 255-260.
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