[455] 9. na vâyu-kriye pṛithag-upadeçât
nicht Wind oder Wirkung, weil er besonders erwähnt wird.

Aber von welcher Beschaffenheit ist dieser Mukhya Prâṇa? Das ist jetzt zu untersuchen. Man könnte zunächst auf Grund einer Schriftstelle denken, ›der Prâṇa sei der Wind, denn es heisst: »der Prâṇa (Hauch), das ist der Wind; dieser Wind ist fünffach: Aushauch, Einhauch, Zwischenhauch, Aufhauch und Allhauch«.‹ – Oder man könnte im Sinne der Anhänger anderer Lehrsysteme denken, | ›der Prâṇa sei eine Gesamtfunktion der Organe; denn so heisst es bei ihnen (Sâ khya-Kâr. v. 29 = Sâ khya-Sûtram 2, 31):


»Gemeinschaftliche Wirkung der Organe

Sind die fünf Winde, Prâṇa (Aushauch) an der Spitze.«‹


– Hierauf ist zu erwidern: der Prâṇa ist weder der Wind noch auch eine Funktion der Organe; warum? »weil er besonders erwähnt wird«. Was nämlich zunächst den Wind betrifft, so wird der Prâṇa neben demselben besonders erwähnt in der Stelle: »der Prâṇa ist einer der vier Füsse des Brahman; durch den Wind als Licht leuchtet er und wärmt er« (Chând. 3, 18, 4); wäre der Prâṇa nur der Wind, so könnte er nicht ausser dem Winde noch besonders erwähnt werden. Ebenso aber wird weiter der Prâṇa ausser den Funktionen der Organe noch besonders erwähnt; denn an vielen Stellen, wo die Rede und die übrigen Organe aufgezählt werden, wird der Prâṇa besonders gezählt; eine Funktion aber ist von dem Träger der Funktion nicht zu trennen, und wenn der Prâṇa nur eine Funktion der Organe wäre, so könnte er nicht neben den Organen noch besonders erwähnt werden. Auch Stellen wie »aus ihm entsteht der Odem (prâṇa), der Verstand[455] und alle Sinne, aus ihm entstehen Äther, Wind« u.s.w. (Muṇḍ. 2, 1, 3) kann man dafür anführen, dass der Prâṇa ausser dem Winde und den Organen noch besonders erwähnt wird. Hierzu kommt, dass eine einheitliche Funktion der sämtlichen Organe gar nicht möglich ist, weil jedes einzelne derselben seine besondere Funktion hat, und ein blosses Aggregat nicht wirken könnte. – ›Aber könnte es nicht damit sein wie mit der Bewegung des Käfigs? Wie nämlich elf in demselben Käfig befindliche Vögel, obwohl jeder für sich seine bestimmte Thätigkeit hat, doch durch ihr Zusammenwirken den Käfig in Bewegung setzen können, ebenso könnten die elf in dem einen Leibe befindlichen Lebensorgane, obwohl sie ein jedes seine besondere Funktion haben, durch ihr Zusammenwirken die eine, Prâṇa genannte, Wirkung zugesprochen bekommen.‹ – Aber das ist, wie wir bemerken müssen, nicht | zutreffend. Denn was die Vögel betrifft, so können diese, wiewohl jeder für sich wirkt, weil ihre voneinander verschiedenen Thätigkeiten der Bewegung des Käfigs entsprechend sind, durch ihr Zusammenwirken den einen Käfig in Bewegung setzen, wie dies die Erfahrung zeigt. Hier hingegen können die Lebensorgane, indem sie die voneinander verschiedenen Verrichtungen des Hörens u.s.w. ausüben, nicht durch ihr Zusammenwirken das Atmen [die Funktion des Prâṇa] hervorbringen, weil kein Beweis dafür vorliegt, und weil das Hören u.s.w. von dem Atmen gänzlich wesensverschieden ist. Auch die dem Prâṇa nachgerühmten Vorzüge, dass er der beste sei, und dass die Rede u.s.w. sich ihm als Qualitäten unterordnen, könnten, wenn der Prâṇa nur eine Funktion der Organe wäre, nicht zu Rechte bestehen. Somit ist der Prâṇa etwas anderes als der Wind und als eine blosse Wirkung der Organe. – ›Aber wie steht es dann mit der Schriftstelle: »der Odem das ist der Wind«?‹ – Wir antworten: allerdings ist es der Wind, welcher, in die Persönlichkeit eingehend und in fünf Zerteilungen abgesondert bestehend, den Namen Prâṇa erhält, so dass dieser zwar keine von jenem verschiedene Wesenheit, aber doch auch nicht blosser Wind ist; daher beide Schriftstellen, sowohl die, welche die Verschiedenheit, als auch die, welche die Nichtverschiedenheit beider betont, in ihrem Rechte sind. – ›Nun gut, so besitzt aber auch der Prâṇa ebenso gut wie die individuelle Seele in unserm Leibe Selbständigkeit, da er der »beste« ist, und da die Sinnesorgane, die Rede u.s.w., sich ihm als Qualitäten unterordnen. Denn so wird mehr als einmal die Machtstellung des Prâṇa geschildert; z.B. wenn, während die übrigen Organe, die Rede u.s.w., schlafen, der Prâṇa allein wach bleibt (Kâṭh. 5, 8), | wenn der Prâṇa allein nicht vom Tode gefesselt wird (Bṛih. 1, 5, 21), wenn der Prâṇa als der an-sich-Raffer die Rede u.s.w. in sich hineinrafft (Chând. 4, 3, 3), wenn der Prâṇa die andern Lebensorgane beschützt wie[456] eine Mutter ihre Kinder (Praçna 2, 13.) Hieraus scheint zu folgen, dass der Prâṇa ebenso selbständig ist wie die individuelle Seele.‹ – Hierauf entgegnet der Lehrer:

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 455-457.
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